Cover: Sarah Crossan, Apple und Rain

„Warum muss ich überhaupt irgendjemandem gehören? Warum kann ich mir nicht selbst gehören?“ fragt die 14-jährige Apple. Bei Großmutter Nana wurde Apple als Dreijährige von ihrer Mutter wegen deren Schauspielkarriere zurückgelassen. Sie, die sich nie wieder meldete, taucht unvermittelt nach elf Jahren auf, um Apple zu sich zu nehmen. Je eindringlicher Nana und der sporadisch anwesende Vater samt neuer Frau davor warnen, umso größer wird Apples Sehnsucht nach einem Leben mit Mum. Apple will Mums Großzügigkeit erleben, sie in TV-Serien bewundern und herausfinden, wie ihre Mutter ist. Trotz Nanas Verstimmtheit zieht Apple um. Eine Zeit der Überraschungen und (Ent-)Täuschungen beginnt. Apple trifft auf ihre jüngere, psychisch labile Halbschwester Rain, die ein Zusammenleben schwer macht. Die Wohnung wird oft zum lautstarken Partytreff mit Mums trinkfesten Freunden. Die häufige Abwesenheit der Mutter, die vermeintlich Jobs sucht, zwingt Apple in die Rolle der Rain-Betreuerin, verleitet sie zum Schulschwänzen und zu trickreichen Ausreden. Geld und Essen sind knapp. Aber Apple will Mum vor Vorwürfen schützen, hofft auf Veränderung. Einsamkeit und Verzweiflung bemächtigen sich des Mädchens. Halt findet sie in den Gedichten von Emily Dickinson, Rupert Brooke oder Lewis Carroll, deren Texte Stimmungen und Lebenshaltungen thematisieren, die Apple berühren und aufrütteln. Als sie ihrerseits versucht, Gedichte und Texte zu schreiben, spürt Apple, dass sie durchaus fähig ist, Gedanken und Gefühle sprachlich zu fassen. Der Lehrer Mr. Gaydon ermutigt Apple zum Schreiben, tauscht mit ihr E-Mails und erkennt nach einem spontanen Besuch Apples fatale Situation.

Sarah Crossan (Die Sprache des Wassers, DJLP-Nominierung 2013; Eins, DJLP-Nominierung 2017) lässt Apple die konfliktreiche Familiengeschichte aus der Ich-Perspektive erzählen. Abgesehen vom knappen Rückblick in eine vage Kleinkind-Erinnerung erzählt die Figur im Präsens und kommt dem Leser somit sehr nahe. Rezeptionspsychologisch klug befördert Crossan Empathie und Verständnis, wobei Leser Widersprüche zwischen Handeln und Fühlen des Mädchens ergründen und so die Entwicklung der jungen Heldin nachvollziehen können. Crossan gestaltet mit dem Jugendroman entwicklungspsychologisch genau und sprachlich überzeugend, wie die Kraft der Poesie die Ich-Findung Heranwachsender beeinflussen kann. Die Aufgabe des Englischlehrers, mit 100 Worten zu beschreiben, was jeder liebt, könnte – mit Apples Text verglichen – als Vorbereitung und Einstieg in eine Veranstaltung dienen.

(Der Rote Elefant 35, 2017)