Roter Elefant

Wegen ungenügender Leistungen wechselt der 15-jährige Joshua von der Realschule auf die Hauptschule. Das Milieu dort ist für ihn eine Herausforderung: eine multi-ethnische Klasse, renitent gegenüber den Lehrern, dominiert von ein paar Schlägern. Damit nicht genug. Joshua ist geräuschallergisch, die Eltern sind getrennt, die Geschwister aus dem Haus. Am meisten belastet ihn jedoch, dass seine langjährige, engste Vertraute Zivan mit jetzt 15 in den Irak zurückkehren muss, um gemäß kurdischer Tradition zu heiraten. Entlastung findet Joshua nur im Zeichnen, worin er Probleme, Stimmungen und Wünsche ausdrücken kann, Zeichnungen, die bereits Hefte füllen. So auch nach Zivans Abreise. In seinen Zeichnungen ist Joshua ein sensibler Wolf und Zivan eine Ziege, in der Mythologie ein Symbol für Unschuld. Als Zivan wegen der Erkrankung einer Tante mit der Mutter zurückkehrt und sogar in ein Frauenhaus flieht, schöpft Joshua Hoffnung. Doch letztlich beugt sich Zivan ihrer Kultur und reist zurück in den Irak. Joshua bleiben nur seine Bilder von ihr, darunter viele Akte, häufig gestaltet mit abgewandtem Gesicht, um Zivan nicht zu nahe zu sein. Merkwürdigerweise entsteht über diese Zeichnungen ein Kontakt zu den „Herrschern“ des Schulhofs Sergio und Dylan, woraus sich eine Beziehung entwickelt, fast eine Freundschaft.

Wie schon in ihrem Debüt „Das ist kein Tagebuch“ (RE 34) lässt Erna Sassen auch in dieser Liebesgeschichte ihren sensiblen Protagonisten eine Art Selbstgespräch führen, um dessen innere Welt zu offenbaren. Dieser Innenwelt stellt sie ein gesellschaftliches Panorama gegenüber, das von vielen sozial determinierten Figuren bevölkert wird, wobei alle in keine Schablone passen und auf ihre Weise Recht haben. Joshua hilft gegen die reale Welt, die manchmal „so scheiße ist“, eigentlich nur die Welt der Kunst. Er hat seine Lieblingsmaler, Rembrandt (Joshuas Spitzname in der Schule), Picasso, Hopper, Turner, und weiß genau, welche künstlerische Arbeit für ihn gerade richtig ist. Visuell untersetzt Illustrator Martijn van der Linden Joshuas Behauptungen über viele Seiten mit entsprechenden Anspielungen aus der Bildenden Kunst. „Ohne dich“ verschränkt somit das psychologisch eindrucksvolle und sprachlich ausgefeilte Porträt des Helden samt realitätsnaher Milieustudie mit einem Grundkurs in Zeichentechniken und Kunstrezeption, denn „Schöne Dinge. Das ist das Einzige, was hilft.“

Interessant wäre, was Jugendliche dazu sagen! Zum Einstieg könnten Wolfs- und Ziegenzeichnungen ausgewählt werden. Welche Stimmungen drücken sich darin aus? Welche Wirkungen werden durch welche Techniken erreicht?

(Der Rote Elefant 40, 2022)