Cover: Dianne Touchell, Kleiner Wahn

Ein bemerkenswerter Jugendbuch-Einstieg: Rose und Michael erleben ihr „erstes Mal“ am Strand, das „nächste Mal“ in Roses Bett. Sexualität wird Selbsterkundung. Erschüttert sagt Rose: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mit jemand anders ich selbst sein kann.“ Bisher folgten beide den angesagten Familienbildern. „Mach ein fröhliches Gesicht, Schatz … In einem fröhlichen Gesicht erkennt man ein glückliches Zuhause“, forderte die Mutter. Und Rose schauspielerte … Michael wird Medizin studieren. Disziplin und (Unter-)Ordnung gelten für dessen Vater als Grundvoraussetzungen für Glück und Erfolg. Doch Rose wird schwanger, für die erst keimende Beziehung eine existentielle Krise. Hilflosigkeit, Wut, Nähe suchen und einander meiden wechseln abrupt. Rose will, dass „es“ weg geht, nimmt Tabletten, raucht, hungert, verleugnet die Schwangerschaft, trennt sich von ihrer besten Freundin, der sie als Einziger nichts vormachen kann. Nach einem Abort vergraben „es“ Rose und Michael, „haben es fast geschafft“, aber Rose muss ins Krankenhaus. Laut Roses Mutter „wegen einer Lebensmittelvergiftung“. Am Ende berühren sich Roses und Michaels Hände auf einem Polizeiflur und Michael sagt noch einmal: „Wir haben es fast geschafft, Rose.“

Schon Touchells Debüt „Zwischen zwei Fenstern“ ergründete wahnhaftes Handeln jugendlicher Protagonisten. „Kleiner Wahn“ wurde durch einen „Fall“ in den USA angeregt, aber Babys werden auch hierzulande „entsorgt“. Die „Täter“, Opfer ihrer Sozialisation, kommen mitnichten nur aus Unterschichtmilieus, sondern – wie hier – aus gutbürgerlichen Kreisen. Somit spielt der Titel nicht nur auf Roses Realitätsflucht an, sondern auch die Eltern fliehen eine Realität, die nicht sein kann, weil sie nicht sein darf. Eigene beschädigte Kindheiten, daraus resultierender Selbstschutz, religiös-bigotte Moralvorstellungen und tradierte Rollenbilder wirken trotz enttabuisierter Sexualität, Verhütungsmitteln und legalen Abtreibungsgesetzen weiter. Dieses komplex gestaltete Geflecht grundiert die Zuspitzung der Katastrophe, welcher die Leser durch Touchells atemlose Erzählweise folgen werden. Sprunghaft wechseln knappe Szenen aus den Milieus, gebunden an Denken, Fühlen und Handeln der Protagonisten, womit der enorme Zeitdruck erlebbar wird, dem beide ausgeliefert sind: unerbittlich fortschreitende Schwangerschaft contra lebensplanentscheidende Abschlussprüfungen. Wenn Michaels letzter Satz (im Buch) meint, dass sie es „fast geschafft“ hätten, sich ihren Lebenslügen zu stellen, wäre das eine wichtige Botschaft für die Leser.

(Der Rote Elefant 34, 2016)