Cover: Dianne Touchell, Zwischen zwei Fenstern

„Da man uns von Geburt an aktiv an der Selbsterkundung hindert, leuchtet es doch absolut ein, dass wir irgendwann zu Tattoos, lauten Autos mit großen Auspuffrohren … oder Busen-OPs greifen, um unser Ich abzustecken“, konstatiert „Creepy“. Diesen Spitznamen, etwa mit „schaurig-unheimlich“ zu übersetzen, verdankt der kontaktscheue 17-jährige offenbar seiner gnadenlosen Sicht auf alles und jeden. Büchernarr Creepy verwendet seine ganze Intelligenz darauf, die sozialen Rituale, vorgespielten Rollen, verborgenen Schwächen und Eitelkeiten anderer zu entlarven, egal ob bei Eltern, Nachbarn, Lehrern oder Mitschülern. Empathie, ja Liebe, empfindet Creepy nur für einen einzigen Menschen, den er Maud nennt und im gegenüberliegenden Fenster beobachten kann. Doch was er sieht, ist ebenfalls schaurig-unheimlich. Maud reißt sich die Haare aus und das nicht nur am Kopf. Zwischen beiden beginnt ein Fensterdialog. Creepy schreibt eine Frage auf einen Zettel, Maud antwortet mit einer Zeichnung. Denn so wie Creepy über Lesen und Schreiben sein „Ich abzustecken“ sucht, so tut Maud dies über das Zeichnen. „Niemand ist eine Insel“ schreibt Creepy später, „Ich bin eine Insel“, entgegnet Maud. Als ein Lehrer Maud demütigt, schlägt Creepy ihn nieder und fliegt von der für die Eltern eigentlich zu teuren christlichen Privatschule. Am Ende steht Maud ein Psychatrieaufenthalt bevor, so dass Creepy die Fensterdistanz aufgeben muss, Maud direkt aufsucht und verspricht, sie zu besuchen und ihr zu schreiben.

Der Australierin Dianne Touchell gelang ein psychologisch und sprachlich ausgefeiltes Debüt. Die Versuche zweier lieblos aufwachsender, einsamer Jugendlicher ihr „Ich abzustecken“, bindet sie an deren jeweilige Perspektive. Die Leser müssen Selbst-, Familien- und Weltwahrnehmungen, aber auch die Genese der „Liebesgeschichte“ zwischen Creepy und Maud eigenständig zusammensetzen. Maud formuliert es einmal so: „Unser Geheimnis – gut verschleierte Geschichten in Fragmenten, die doch ein Ganzes bilden.“ Für nachdenkliche Jugendliche ist das Buch eine Auf- und Herausforderung aus den Reflexionen der Figuren über Glück, Angst, Wahnsinn und Tod eigene Schlüsse zu ziehen. Den Creepy-Kapiteln sind, z.  T. etwas bemüht, Zitate klassischer und aktueller Autoren vorangestellt, wobei das letzte Zitat „Was du freiwillig liest, bestimmt, was du unfreiwillig bist“ (Oscar Wilde) als kleine philosophische Denkübung einer Buchvorstellung vorausgehen könnte. Als Einstieg könnten auch Vor- und Nachsatz dienen, welche die gegenseitigen Beobachtungen der Ich-Erzähler gegenüberstellen.

(Der Rote Elefant 33, 2015)