„Wer Angst hat vor Abenteuern, kann gleich zu Hause bleiben.“ Dann mal los! Ein Mädchen und ein Junge spazieren in eine Landschaft hinein: ein paar Bäume, Hügel, Wiese, sonst nichts. Sie haben ein Stück Brot dabei, einen Apfel, einen Stock, was kann schon passieren? An realen Ereignissen geschieht wenig. Mal sind die Kinder auf einer Straße, auf einem Berg, auf einem Parkplatz, mal kommen sie in den Regen und mal wird es Nacht. Aber immer stoßen sie auf offensichtlich imaginierte, der Fantasie entsprungene Lebewesen, einen Zwerg auf einem Fahrrad, sprechende Füchse, angriffslustige Kühe oder kartenspielende Ziegen beim Picknick. Richtig gefährlich wird es nie, außer dass sie einmal den Mond beiseiteschieben müssen, um den Abstieg von einem Berg zu schaffen. Schließlich landen sie erschöpft, aber glücklich wieder in ihrem Zimmer. „Weißt du noch, wie wir wieder zu Hause ankamen und ein wenig getanzt haben, weil wir uns so sehr freuten?“
Das erinnernde „Weißt-du-noch“ leitet jede der zwölf Episoden – jeweils links erzählt und rechts mit Aquarellen stimmungsmäßig untermalt oder gespiegelt – ein. Drei doppelseitig illustrierte Abenteuer brechen bewusst mit dem Layout-Konzept und schaffen innerhalb der Aquarelle noch einmal einen bestimmten Erzählbogen, der mit dem arglosen „Aufbruch“ der Kinder beginnt, sie „fliegende Kühe“ überstehen und den „Nachtrückweg“ beherzt bewältigen lässt. Gäbe es nur die Aquarelle, könnte es sich um kürzlich Erlebtes handeln, woran das eine Kind das andere erinnert. Jutta Bauer zieht aber unter dem Textblock eine zweite Erzählebene ein, grau-weiß, mit dünnen Bleistiftstrichen gezeichnet: Zwei alte Leute unterhalten sich, sitzen auf einer Bank, spielen Karten, der Mann liegt auch mal in einem Krankenbett. Sind sie es, die sich an ihre Kindheit erinnern? Auf einem der letzten Bilder sitzt der alte Mann da, irgendwie traurig, auf dem Schoß den Stoffhund, der bei den Kinderabenteuern immer mit von der Partie war. Und das ist nur eine der vielen Anspielungen, die mit Drvenkars Text und Bauers sonstigen Aquarellen korrespondieren.
Das außergewöhnliche, fröhlich und zugleich melancholisch stimmende, Bilderbuch spielt auf geistreiche Weise mit Vergangenheit und Gegenwart, Wirklichkeit und überbordender Phantasie. Kindliche Leser und Betrachter kann es zu vielen Text-Bild- oder Bild-Bild-Entdeckungen verleiten. Natürlich regt es ebenso dazu an, Situationen weiter- oder neue auszuspinnen, die auf eigenen Erlebnissen beruhen. Schön wäre, Oma und Opa zu fragen: „Wisst ihr noch, wie das war? Als ihr noch Kinder wart? Welche Abenteuer habt ihr erlebt?“
(Der Rote Elefant 35, 2017)