An einem Wintertag beobachtet die 11-jährige Marika viele blau leuchtende Fische im Fluss nahe des Dorfes. Der Fischzug erinnert sie an die Mutter, die vor drei Jahren ins ferne Italien zog. Seitdem kommen via Western Union „fremde Scheine“, von denen die Großmutter alles Nötige kauft. Im Dorf lässt sich nur etwas Geld mit dem Verkauf von Blaubeeren verdienen. Unter Marikas Kissen liegen die Briefe der Mutter: „zwei Lebenszeichen pro Jahr“, zum Geburtstag und zu Weihnachten. Das Mädchen folgt dem Fluss stromaufwärts und trifft auf andere Dorfkinder. Iwan fordert sie auf, wie die anderen einen Weihnachtswunsch mit blauer Tinte auf einen 100-Dollar-Schein zu schreiben und in den Fluss zu werfen. Als Marika fragt, ob sie sich nicht etwas wünschen darf, ohne den wertvollen Schein zu opfern, schreit Iwan voller Wut: „Wir brauchen ihr Geld nicht! Es gibt genug Blaubeeren in den Karpaten!“

„Zug der Fische“, ein Novum im Bilderbuch, erzählt in Text und Bild von Kindern, deren Eltern den Lebensunterhalt in reichen Industrieländern verdienen müssen. Zwar wählte die aus der West-Ukraine stammende Yaroslava Black das reale Dorf Brusturiv als erzählten Ort, aber es könnte auch jedes andere ukrainische, bulgarische oder rumänische Dorf sein, wo „Eurowaisen“ leben, wie die Kinder osteuropäischer Arbeitsemigranten genannt werden. Laut Nachwort ca. 1 Million. Am Beispiel der Eurowaise Marika gelingt Black auf berührende Weise, Zerrissenheit, Schmerz und Verlassenheitsgefühle nacherlebbar zu machen. Schlicht erzählt, dabei perspektivisch nah an Marikas Denken und Fühlen, beeindruckt der Text mit vielen sinnlichen Details: der vom Beerennaschen gefärbten Zunge, dem fremden Geruch des Lavendels im Brief der Mutter, dem durch das Schindeldach dringenden Regen … Begleitend heben Jänichens klug gewählte, intensive, z. T. kindlich wirkende Bunt- und Wachsmalstift-Zeichnungen wichtige Erinnerungsmomente der Heldin eindrucksvoll hervor. Häufig eingesetztes Blau illustriert nicht nur Fluss oder Heidelbeerfelder, sondern auch Traurigkeit oder nächtliche Angst. Ebenso drücken die Panoramen der karpatischen Landschaft im Verbund mit den verschlossenen Kindergesichtern überzeugend deren Einsamkeit aus.

Neben der Natursymbolik zieht sich ein religiöses Motiv durch die Geschichte: (Über-)Mutter Maria mit Sohn. Am Ende wird sogar George Washington auf dem Dollarschein mit Gesichtszügen der Gottesmutter übermalt. Hoffnungssymbol oder kindliche Trotzreaktion?

Die Abbildung der ziehenden Fische als Gleichnis für die Sehnsucht des Kindes nach der Mutter könnte direkt ins Buch führen. Welche Assoziationen verbinden Kinder damit?

(Der Rote Elefant 39, 2021)