„Ich traue Wörtern auf Papier viel mehr als Wörtern in der Luft.“ So beginnt der 11-jährige Ich-Erzähler seine Niederschrift über den Sommer, in dem er „beim Zeitungsaustragen lauter neue Leute kennengelernt hat“ und „viele schlimme Sachen passiert“ sind. „Aber auch paar gute.“
Mit dem Schreiben hofft Vincent all das zu begreifen: die Begegnung mit der schönen Alkoholikerin Mrs. Worthington, dem scheinbar vom Fernsehen besessenen Jungen und dem verschrobenen Mr. Spiro. Vince stottert und hat große Mühe, ganze Sätze auszusprechen, was besonders beim Kassieren zur Herausforderung wird. Sorgfältig, aber von Ängsten geplagt, sucht er nach Wörtern, die mit Buchstaben beginnen, die ihm leicht über die Lippen kommen. Bahnt sich ein unvorhergesehenes Gespräch an, bleibt ihm die Luft weg. Vince ahnt, wie unbeholfen und zurückgeblieben er auf andere wirkt.
Engste Vertraute des Jungen ist die einfühlsame Mam, eine farbige, streng gläubige Haushälterin. Mit ihrer verständnisvoll-fürsorglichen Art bestärkt sie Vince darin, zu tun, was er für richtig hält: Als der kriminelle Müllsammler Ara T. Vince bestiehlt und bedroht, verhilft Mam Vince zu seinem Recht und riskiert dabei ihr Leben.
Die Geschichte spielt im amerikanischen Memphis Ende der 50er Jahre, was sich beim Lesen erst nach und nach erschließt: So darf Mam nur in Vince‘ Begleitung im Bus vorn sitzen und beim Zoobesuch verhalten sich farbige Frauen, die weiße Kinder betreuen, ganz anders als bei den Chorproben in ihrer Kirche, wohin Vince Mam manchmal begleitet. Im gesamten Vorstadtpersonal fällt Mr. Spiro auf, der mit Vince über Denken und Sprache diskutiert, ihn anregt, über das Verhalten von Erwachsenen nachzudenken und ihn stets mit einem Rätsel oder einer Frage entlässt. (Der autobiographische Bezug zu Mr. Spiro enthüllt sich im Nachwort.)
Durch die Innenperspektive begreift der Lesende die psychische Last des stotternden Jungen, erkennt aber zugleich dessen Reichtum an Gedanken über die Vorgänge um ihn herum. Der Wechsel von Präsens – die Gedanken vor und nach dem Tippen auf der Schreibmaschine – und Präteritum – der Rückblick auf den Sommer vor der 7. Klasse – verleiht dem Text eine hohe Authentizität.
Trotz historischer Distanz wirkt der Roman sehr unmittelbar und kann heutige junge Lesende ermutigen, eigene Gedanken auszusprechen und mit anderen zu teilen. „Es ist wichtiger was ich als wie ich es sage“, resümiert Vince am Ende des Sommers. Von Mr. Spiro erhält er viermal einen Teil eines Fünf-Dollar-Scheins. Auf jedem steht ein Wort: Schüler, Spieler, Sammler, Sucher. Diese Idee kann für die Bucheinführung genutzt werden. Wo gibt es eine Verbindung zwischen diesen Wörtern?
(Der Rote Elefant 33, 2015)