Der Vater ist an der Front, die Mutter in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Obwohl Rosalie erst fünf Jahre alt ist, darf sie in der Schule hinten sitzen. Dort kann sie sich hinter Mänteln tarnen, dann sieht keiner, dass sie auch Soldat ist, in „geheimer Mission“ … Als Mädchen verkleidet, spioniert sie den Feind aus und muss auf alles genau achtgeben. Eines Tages wird man ihr „dafür einen Orden verleihen. Tief in mir glänzt er schon.“ Zuhause liest die Mutter Briefe des Vaters vor. Sie handeln von schönen Aktivitäten nach dem Krieg: vom Angeln und Marmeladekochen. Aber warum ist das Gesicht der Mutter dabei so traurig? Und warum verstecken sich auf den Zeichnungen des Vaters Soldaten in Löchern? Dann kommt ein Brief, den die Mutter zu verheimlichen sucht, aber Rosalie muss die Wahrheit „ausspionieren“. Da sie beim „Achtgeben“ auch Lesen gelernt hat, entziffert sie in den Briefen Wörter wie Blut, Eisen, Angst, Gemetzel … Endlich findet sie auch den Brief, nach dem keiner mehr kam. Der Vater: „gefallen auf dem Felde der Ehre“. Jetzt können Mutter und Rosalie gemeinsam trauern. Am Ende kommt wirklich ein Orden, für den Vater, posthum: „aus funkelnder Bronze. Wie ein lebendiger Fisch in meiner Hand“.
Rosalie lässt die Leser*innen zu Mitwissenden ihrer „geheimen Mission“ werden. Über das Präsens der Ich-Erzählung vermittelt de Fombelle auf überzeugende Weise Naivität, Spontanität und Entschlossenheit seiner Heldin und rückt diese trotz zeitlicher Distanz nahe an die Leser*innen heran, um von den Auswirkungen eines Krieges auf ein Kind zu erzählen. Gemeint ist der Erste Weltkrieg, den die Franzosen La Grande Guerre nennen.
Isabelle Arsenault verstärkt mit zurückhaltenden, aber ausdrucksstarken Bildern einen emotionalen Zugang zum Text, wobei Rosalies hellrotes Haar die insgesamt schwarz-grau-braune Grundstimmung aufhellt. Leser- und Betrachter*innen sind gleichsam angehalten, aus den Mutter-Tochter-Porträts deren Gefühlen nachzuspüren. Auch „erzählen“ Doppelseiten, welche die Erzählung wirkungsvoll unterbrechen, da sie zum Innehalten zwingen, mittels realistischer Details ein „Mehr“ über die erzählte Zeit: der Kohleofen in der Schule, der kriegsversehrte Lehrer an der Kreidetafel, die Kerzen als einzige Wohnzimmerbeleuchtung. Die blauen Federzeichnungen des Vaters, doppelseitig als Skizzen zu sehen, zeigen Situationen aus dem Grabenkrieg. Ergänzend dazu böten sich Blätter von Otto Dix aus dessen Mappe „Der Krieg“ an (nicht gerade die schrecklichsten), denn diesen Krieg gab es wirklich. Das französische Kind hätte auch ein deutsches sein können. Nie wieder Krieg!
(Der Rote Elefant 38, 2020)