„Heute lässt da oben jemand Nägel vom Himmel regnen. Das sollte so nicht sein, sagt Papa.“ Er trägt seinen schwarzen Anzug, in der Hand ein Strauß roter Rosen. Und wartet auf Anna. Die Kirchenglocken läuten schon. Anna spürt des Vaters Unruhe, doch schaukelt sie weiter, lehnt sich weit zurück – betrachtet die auf dem Kopf stehende Welt. Anna hat Zeit. Und Wichtiges zu tun: Sie entdeckt, dass die auf dem Tisch stehende Teekanne Ähnlichkeit mit der Figur eines Elefanten hat. Mama hat immer gesagt, alles hätte zwei Seiten. Doch wie mag die andere Seite wohl aussehen? „Wenn Anna die Augen schließt, kann sie alles sehen, was sie will.“ Der Himmel spiegelt sich im Wasser, Anna nimmt Papas Hand und taucht mit ihm ein in das Himmelsmeer, in die Anderswelt, wo die „Unsichtbaren“ leben. Wahrhaft Wunderbarem, Prächtigen, überirdisch Schönem begegnen sie, folgen fliegenden Fischen, hören den vielstimmigen Meeresgesang, sehen wie zahlreich diese Welt „bevölkert“ ist (u. a. Darwin, Picasso, Elvis, Breschnew, Virginia Woolf). Annas Mama jedoch entdecken sie nicht.
Vielleicht arbeitet sie gerade im Paradiesgarten oder in der Bibliothek. Irgendwann sagt Papa: „Hier bin ich noch nie gewesen, … aber ich bin froh, dass Du mich mitgenommen hast“. Wie kann man den Verlust eines geliebten Menschen aushalten, begreifen, wie danach weiterleben? Annas Bewältigungsstrategie ist eine kindlich-unmittelbare. Durch ihre Fragen, Erinnerungen, Vorstellungen, ihre Phantasie kommt sie mit dem vor Schmerz und Trauer erstarrt wirkenden Vater ins Gespräch, tröstet, gibt Zuversicht. Hole nutzt das Spiegelmotiv, um das Phantastische, den Traum als Möglichkeit für Erfahrungsraum- und Welterweiterung begreifbar zu machen. Vergänglichkeitssymbole in den Bildern (eine zerbrochene weiße Porzellantasse, leere Schneckenhäuser, eine Uhr ohne Zeiger, vertrocknete Blumen) erinnern allgegenwärtig an das Unabänderliche. Doch finden sich auch Symbole des Lebens, der Hoffnung wie Schmetterlinge, Seifenblasen oder ein geradezu vor Blüten, Tieren, Früchten … überquellendes füllhorngleiches Perlboot. Die (wie auch schon in den Garman-Büchern, u. a. DJLP 2010) künstlerisch herausragenden fotorealistischen Collagen sind von großer surrealer, opulenter, leuchtend farbiger Schönheit. Zitiert werden Magritte, Dali, Rousseau und Frida Kahlo, aber auch Erich Haeckl und „Alice im Wunderland“. Ausschließlich das Zusammenspiel von Bild und Text ermöglicht eine Deutung des Geschehens. Am Ende sind Anna und ihr Papa zurückgekehrt und bereit, in das Boot zu steigen, bereit für die Überfahrt. Und das Nachsatzpapier zeigt leuchtendrote Erdbeeren im Himmelsblau.
(Der Rote Elefant 32, 2014)