Roter Elefant

„All das Verrückte, Überraschende und Gefährliche, was passiert ist, hat eigentlich mit Mischas Badehosengeschichte begonnen.“ Der hibbelige Nits, der stets einen witzigen Reim auf den Lippen hat, fühlt sich wie vor den Kopf gestoßen, als er den sonst überkorrekten besten Freund Mischa beim Fälschen einer ärztlichen Schwimmbefreiung ertappt. Nits, der Mischa bisher bedingungslos vertraute, beginnt Freund und Freundschaft zu hinterfragen. Dabei ahnt Nits nicht, dass Mischas „Lügen“ und sein merkwürdiges Verhalten auf Scham beruhen, da er meint, mit anderen nicht mithalten zu können. Darüber hinaus geraten Nits, Mischa und dessen kleine Schwester Amy in eine bedrohliche Lage, als Mischas Dad in krumme Geschäfte verwickelt wird und verschwindet.

Stefanie Höflers gesellschaftskritische Geschichte der Freundschaft zweier Protagonisten aus verschiedenen sozialen Schichten thematisiert Armutsverhältnisse im reichen Deutschland und deren gesellschaftliche Tabuisierung. Letztere spiegelt sich in Mischas Verhalten wider. Statt über seine Probleme zu sprechen, verschweigt er Nits gegenüber seine prekären Lebens- und Wohnverhältnisse. Überdies konstruiert sich Mischa eine andere Identität. Er erfindet Lügengeschichten, um den Schein einer heilen Welt zu wahren. Damit spricht Höfler ein Phänomen an, das nicht nur sozial Schwache betrifft, sondern auf alle zielt, die medialen Persönlichkeitsinszenierungen „followen“. Ich-Erzähler Nits, selbst finanziell und familiär gut aufgehoben, nimmt die Probleme des besten Freundes anfangs überhaupt nicht wahr. Erst spät fallen ihm z. B. Mischas abgetragene Turnschuhe auf und lassen ihn Ungleichheit verdichten: „Schnell erfasst: Welt-Kontrast!“ Die von Mischa geliebten „Nits-Sprüche“ und Gedichte, allen Kapiteln vorangestellt, verleihen Höflers Ich-Erzählung eine klangvoll-sprachspielerische Leichtigkeit und sind ein gelungener Zugang zu verschiedenen sozialen Milieus. Ihre Werbung für Vertrauen und den Mut, sich anderen gegenüber zu öffnen, betrifft jedoch über die erzählte Geschichte hinaus jede Art von Beziehungen.

Nits originelle Sprüche und Gedichte ermöglichen es, sich schrittweise der Armutsthematik zu nähern und dabei auf ökonomische und soziale Fragen einzugehen. Darauf aufbauend, könnten sich Leser*innen mit der einen oder anderen Figur identifizieren bzw. ihre Erfahrungswelten abgleichen, wobei sie für das Thema „Armut“ sensibilisiert würden.

(Der Rote Elefant 40, 2022)