Cover: Stefanie de Velasco; Tigermilch

„Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann müssen wir ja wissen, wie alles geht. Wir müssen wissen, wie alles geht, damit uns keiner was kann.“ Schutzbedürftig sind sie, Nini und Jameelah, beide 14, aufgewachsen in einer multikulturellen Berliner Wohnsiedlung. Doch sie sind meist auf sich allein gestellt, denn „verfault“ ist die (Erwachsenen) Welt um sie herum. Gemeinsam aber fühlen sie sich „cool und pomade“. So ziehen sie taumelnd, haltsuchend, selbstzerstörerisch durch Berlin, zum Cliquen-Treffpunkt am Planet, zu Alkohol- und Drogenparties, zum Klauen in die Arkaden. Kraft und Selbstbewusstsein gibt ihnen Tigermilch – ein die Welt erträglich machender Cocktail aus Milch, Weinbrand, Fruchtsaft – ihr Grundnahrungsmittel. Ein Sommer liegt vor ihnen, in dem sie ihre Jungfräulichkeit verlieren, echten Sex mit jemandem, den sie lieben (oder was sie dafür halten) haben wollen.  Dafür „üben“ sie an Männern, die sie auf dem Strich an der Kurfürstenstraße aufgabeln. Eines Nachts werden die Mädchen Zeugen eines Mordes und stehen vor der Entscheidung, ob sie sich in dessen Klärung einmischen. Und damit Verantwortung übernehmen – nicht nur für den fälschlich beschuldigten Freund.

Stefanie de Velascos Debütroman (Kranichsteiner Stipendium 2014) ist eine kraftvoll-rotzige, desillusionierende Darstellung von Großstadtkindheit und -jugend. Scheinbar kein Problemkiez-Klischee auslassend, ist sie nah dran an drastischer (Berliner) Lebensrealität, weiß viel über Bindungslosigkeit, Vereinsamung, Traumatisierung, Hoffnungslosigkeit, aber auch Trotz und Sehnsucht. „… wer weiß, vielleicht wird mein Leben noch ein echtes Märchen, und Märchen fangen immer katastrophal an und enden gut.“ De Velasco lässt Nini abgeklärt, weise, zynisch, trotzig, kindlich-naiv erzählen von drei Monaten des ersehnten, befürchteten, unvermeidlichen, „krassen“ Erwachsenwerdens. Nini bezeichnet Jameelah zwar als beste Freundin, aber dass diese für den Einbürgerungstest paukt, ihr die baldige Abschiebung droht, rührt sie kaum. Gefühle dringen schwer an die Oberfläche, werden ständig betäubt. Zahl- und temporeiche Dialoge charakterisieren die frechen, gewitzten, ihren eigenen Regeln folgenden Protagonistinnen ebenso wie deren Sprachcodes mit „O-Sprache“ und „Wörterknacken“, mit Geschichten erfinden und „Stadt, Land, Aids“-Spiel. Der Spielplatz in der Siedlung ist symbolischer Ort. Hier wo sie als Kinder zusammen mit Tarik, Jasna, Amir, Nico spielten, kommt es zur Eskalation, wird Kindheit Erinnerung, beginnt es, das „echte“ Leben. Die Frage „Welche Erwartungen haben Jugendliche an das Erwachsensein?“ kann Gesprächsanlass für den Einstieg in die Geschichte über Nini und Jameelah sein.

(Der Rote Elefant 32, 2014)