Velluto ist kein gewöhnlicher Dieb. Er steigt nur in Häuser ein, wo sich die Bewohner gut riechen können. So ein „glückliches“ Haus bewohnen Architekt Claude, Tänzerin Corinne und beider Kinder Pierre und Emile. Unbemerkt springt der Maskierte durchs offene Fenster und schleicht der Nase nach: Exotische Gewürze verraten die Küche, Flur und Zimmer duften nach geölten Möbeln, Ölbilder dünsten Farben aus … Katzengleich bewegt sich Velluto durch die Zimmerfluchten des anheimelnd gestalteten Hauses. Doch trotz exzellenter Witterung wird er entdeckt. „Steck deine Nase anderswo hinein! In dieser Familie hast du nichts verloren, in diesem Haus bist du ein Fremder …“ befiehlt der geruchlose, weißgewandete Geist der Urururgroßmutter und weist Richtung schwarzes (Fenster-)Rechteck …! Geworfen in ein „Exil im Dunkeln“ bekennt Velluto sein Einbruchsmotiv: Ihm geht es nicht um Diebesgut, er sucht den Ur-Geruch seiner Kindheit, (s)ein Zuhause. Fände er diesen, könne er die Maske ablegen, wüsste er (wieder?) wer er sei.
Das schon im Format ungewöhnliche Bilderbuch ist ein Buch für die ganze Familie. Es erzählt von der Geschichte der Dinge, aber auch davon, was Dinge Menschen bedeuten können. Für die Bewohner gehören sie zur eigenen Identität, das, wonach Velluto sucht.
Richtet sich die Sehnsucht nach dem verlorenen Kindheitsparadies als entwicklungspsychologisches Angebot eher an Erwachsene, so hat Vellutos sinnliche Erkundung der Räume für Betrachter jeden Alters etwas Voyeuristisch-Prickelndes. Letzteres wird dadurch verstärkt, dass die Betrachter mehr sehen als der Eindringling. Häufig muss dieser selbst erst entdeckt werden. Ein ästhetisches Versteckspiel zwischen Dieb, Hausbewohnern und Bildbetrachtern. Die mit schwarzer Schraffur überzogenen Farbillustrationen wirken trotz formaler Opulenz blass-geheimnisvoll, aber immer wieder leuchten (vgl. Magritte) hellgelbe Fenster vor dem Dunkel der Nacht. Das romantische „Fenster“-Motiv findet sich – meist angeschnitten – in jeder Doppelseite. Überhaupt verführen Anschnitte als durchgängiges Gestaltungsprinzip zu Kombinationen, zum Entschlüsseln surrealer Spiegelungen oder Übergänge zwischen Natürlichem und Künstlichem. Zu entdecken sind Beispiele aus zwei Jahrhunderten Kunst- und Designgeschichte: Skizzen, Namen und Daten sind auf Vor- und Nachsatz zu finden. In die phantastische Diebes-, Familien- und Kunstgeschichte muss eine „Geruchsspur“ führen: Nussöl, Lavendel, Holz, Kaffeesatz, Farben, Gewürze… Welche Illustration riecht wie? Welche (Kindheits-) Erinnerungen verbinden sich damit? Wo finden sich Düfte im Text, in den Bildern und in den Bildern der Bilder? (vgl.: Duft des Kakaos und „Das Schokoladenmädchen“). Und: Was könnte Velluto eigentlich stehlen wollen?
(Der Rote Elefant 30, 2012)