Langweilige Besuche bei Verwandten kennt jedes Kind: „Eine Stunde hin, komische Fotoalben angucken, öde Geschichten anhören und dann eine Stunde zurück. Der Sonntag ist jedenfalls hin!“ – Auch Sebastian Meschenmosers Rotkäppchen „hat keine Lust“ auf einen Geburtstagsbesuch bei Oma. Im Wald begegnet es jedoch einem Wolf, der alles besser weiß und dem Mädchen vorführt, womit man ausgestattet sein muss, um ältere Damen zu erfreuen. Dabei vergisst der Wolf sogar, dass er eigentlich Hunger hatte und dem Rat seiner Großmutter folgen wollte: „Wenn du dich einmal bitter fühlst, friss ein süßes Kind. Das hilft immer!“ Die Jubilarin jedenfalls ist über den Überraschungsbesuch des „haarigen Herrn aus dem Wald“ hocherfreut und findet in ihm einen Seelenverwandten.
Wie das Grimmsche Original wartet auch diese Variante mit zwei sehr gegensätzlichen Protagonisten auf, wobei deren Charaktere nicht wiederzuerkennen sind: Hier der freundliche, gutgelaunte Wolf, der sich hervorragend in die Gruppe der sympathischen Tiercharaktere aus Meschenmosers vorherigen Büchern einreiht, dort das permanent genervte Rotkäppchen, dessen Lustlosigkeit der Künstler mimisch und gestisch deutlich ins Bild setzt. Die Großmutter wiederum gestaltet der Künstler als eine über beide Wangen strahlende, Fotoalben sammelnde Figur, der er als Kuriosum noch ein Huhn auf dem Kopf setzt.
Neben dem originellen Figurentriumvirat besticht Meschenmosers erste Märchenadaption durch gewohnt klugen Wort- und Bildwitz, wobei er das eine oder andere Zitat einflicht – sei es die „Darf ich’s wagen“-Frage aus Goethes „Faust“, die obligatorische Groucho-Marx-Maske oder ein sofort an einen gewissen Herrn erinnerndes Eichhörnchen. Bemerkenswert ist die Darstellung von Rotkäppchens Aufzählung des Korbinhaltes. An ein Stilmittel aus frühen Grimm-Einzelausgaben des 19. Jahrhunderts erinnernd, ist dies möglicherweise eine Hommage an die ersten Grimm-Illustratoren. Erstmalig in seinem Bilderbuch-Universum ergänzt Meschenmoser seinen fast skizzenhaften Bleistiftstrich ausschließlich mit Aquarellfarben. Diese neue Technik unterstreicht das für ihn ebenfalls neue Thema „Märchen“. Weitere Adaptionen sind – zum Glück – angekündigt. Für alle Rotkäppchen-Kenner ist dieses Buch ein in jeder Hinsicht gelungener grandioser Spaß, der dazu anregen kann, Märchen gegen den Strich zu bürsten und aus neuen Perspektiven zu erzählen.
(Der Rote Elefant 35, 2017)