„Barbara? / Hörst du mich?“, fragt die etwa zehnjährige Ich-Erzählerin ihre große Schwester vor deren verschlossener Zimmertür. Früher war die Tür offen. Früher gingen sie gemeinsam klettern, sprangen in zugefrorene Lacken (österr. für Pfützen), sahen sich Katzenvideos an oder kurvten lachend mit einem Einkaufswagen auf dem Parkdeck herum. Jetzt erinnert die Jüngere die Ältere an solche glücklichen Momente. Offenbart ihr, wie sehr sie das Zusammensein vermisst, welche Sorgen sie sich um die Schwester macht, seitdem es die Vertrautheit zwischen ihnen nicht mehr gibt. Seit Barbara Anne kennengelernt hat, nichts mehr isst, in der Schule ohnmächtig geworden ist und dem Vater „Es lohnt sich nicht.“ entgegengebrüllt hat. Seitdem sie sich mehr und mehr zurückgezogen, isoliert hat. „Was kann dich noch glücklich machen?“, fragt die Jüngere durch die Tür – und hätte selbst gleich einige Ideen. Doch: Bedeutet sie der großen Schwester eigentlich noch etwas? Auf keinen Fall will sie diese verlieren. „Barbara? / Kommst du? / (…) / Bitte lass mich nicht allein.“
Eindrücklich gestaltet Sarah Michaela Orlovský den berührenden, von Angst, Zweifel und lebensbejahender Zuversicht geprägten Monolog eines Kindes, dessen Leben von den Folgen der Erkrankung der geliebten Schwester geprägt ist. Es ist der Tag der Beerdigung von Barbaras Freundin. Auch diese litt an der Krankheit, die sie immer weniger werden ließ. Das Wort „Magersucht“ fällt nicht ein einziges Mal im Text, allein auf dem Klappentext ist es zu finden.
In knappe, maximal doppelseitige, übertitelte Kapitel fasst die Autorin, was die jüngere Schwester der älteren zu sagen hat. „Ältersein reicht manchmal nicht. / Es kann auch umgekehrt sein. / Dass Jüngere etwas besser wissen.“ Zum Beispiel, dass alles wieder anders werden kann, sich Lücken wieder schließen können, warum es sich lohnt zu leben.
Die Eindringlichkeit und Unmittelbarkeit von Sprache und Stimme, die Orlovský ihrer Protagonistin verleiht, verdeutlicht deren Reflexionsvermögen, Sensibilität und Reife. Wie Puzzleteile fügen sich die poetisch verdichteten Episoden, Fragen, Gedanken nach und nach zusammen. Deutlich werden Entstehung und Verlauf einer familiären Krisensituation, geprägt von Hilflosigkeit und Verzweiflung. Und von der Angst, Barbara könne geschehen, was Anne geschehen ist. Ob es der Schwester gelingt, zu Barbara durchzudringen, bleibt letztlich offen.
Das, auch in der Ästhetik von Satz und Druck, überzeugende Buch der österreichischen Autorin dürfte Kinder und Erwachsene zum Nachdenken und Miteinanderreden anregen. Als Einstieg in die Beschäftigung mit dem Buch böten sich die – einzeln ausgedruckten – Kapitelüberschriften an. Was verraten sie über die Geschichte?
(Der Rote Elefant 39, 2021)