Grimms Märchen in Englisch neu (nach)erzählt und ins Deutsche rückübersetzt? Da regen sich Zweifel ob der Qualität einer solchen Unternehmung, nicht nur angesichts der weltweit verbreiteten Disney-Versionen. Philip Pullmanns Nacherzählungen von 50 Grimmschen Märchen zerstreuen diese Zweifel. Der renommierte Autor, bekannt durch Romane und Fantasy-Erzählungen, begegnet den Grimmschen Texten mit großem Respekt. Seine subtilen Veränderungen entspringen dem Anliegen, die gedruckten Geschichten in die Mündlichkeit zu übertragen. Man hört fast beim Lesen den Erzähler, der mit Freude und feinem Gespür für Poesie heutigen Kindern etwas vermitteln will, was jenseits ihrer Alltagserfahrungen liegt und dennoch symbolisch damit verbunden ist. Dabei behauptet er eine vom Alltagsjargon entfernte Sprache, abseits des Trends, Texte dem Zeitgeist anzupassen. Diesem Gestus, aber auch den Originalen, fühlt sich die Übersetzerin gleichermaßen verpflichtet. Sie übernimmt Wendungen der Grimms und sucht in ihren Transformationen nach verbalen Entsprechungen, die der Magie der Poesie vertrauen und den Ton des (Nach)Erzählers überzeugend treffen.
Die von Shaun Tan hinzugefügten 44 abfotografierten Kunstfiguren und -objekte aus „profanem Material“ (Nachwort) sind von exquisiter Schönheit und Ausstrahlungskraft. Dafür ließ sich der Illustrator preisgekrönter Bilderbücher von den Steinskulpturen der Inuit und altamerikanischen Tonfiguren inspirieren. Tans auf ein Minimum reduzierte formale und farbliche Zeichen und sein Spiel mit Hell und Dunkel sind in der Wirkung absolut rätselhaft und erzeugen eine immense Spannung zwischen Bildern und Texten. Ein Wermutstropfen: Pullmanns Vorwort enthält Fehlinformationen. Um nur zwei zu nennen: Die ersten Beiträgerinnen für die Grimmsche Erstausgabe 1812 kamen nicht aus der „Mittelschicht“, sondern waren meist junge, sehr gebildete Damen aus dem gehobenen Bürgertum oder der Aristokratie. Und: Die Behauptung, die Sammel- und Editionstätigkeit der Brüder sei Teil einer damals weit verbreiteten Bewegung gewesen und „eine solche Sammlung [wäre] zweifellos auch ohne die Brüder zu Stande gekommen“, muss relativiert werden. Mit der Erstausgabe ernteten die Brüder harsche Kritik, auch von Freunden. Da war u. a. von „Trödel“, einer „Rumpelkammer wohlmeinender Albernheiten“, von „Andacht zum Unbedeutenden“ die Rede. Wilhelm resümiert 1856, dass sich die Haltung der Zeitgenossen gegenüber dem Märchen erst durch ihre Sammlung grundlegend verändert habe: „Wie einsam stand unsere Sammlung, als sie zuerst hervortrat, und welche reiche Saat ist seitdem aufgegangen […]“ Aber: nicht Pullmanns theoretische Kompetenz steht zur Diskussion, sondern sein Erzählstil, welcher der Zunge freien Lauf lässt! Deshalb als Vorlesebuch oder als Orientierung für das mündliche Erzählen überaus empfehlenswert!
(Der Rote Elefant 32, 2014)