Als alter Mann sagt Nicholas Winton: „Ich war kein Held. … Ich habe nur gesehen, was getan werden muss.“ Doch er hat nicht „nur gesehen“, sondern rettete 669 tschechischen, meist jüdischen Kindern das Leben. Nicky, 1909 in London geboren, ist vielseitig interessiert, zeitkritisch und reiselustig. 1938 bittet ihn ein Freund um ein Treffen in Prag. Die Deutschen stehen im Sudetenland. Nicky ist klar, dass Krieg bevorsteht und insbesondere Kinder in Lebensgefahr sind. Bis September 1939 organisiert er acht Züge, welche Kinder nach London bringen. Dann sind die Grenzen zu. Ein 9. Zug mit 250 Kindern kann nicht mehr losfahren. Vielleicht spricht Winton deshalb nach dem Krieg nie mehr über die „Kinder“. Erst als seine Frau alte Unterlagen findet, kommt die Aktion in die Welt. Bei einer Fernsehshow vor Gästen stehen bei der Frage, ob jemand hier sei, der Winton sein Leben verdanke, alle in der Nähe Sitzenden auf. Darunter die Jüdin Vera Gissing, deren Eltern die damals 10-Jährige auf die Reise ins Ungewisse schickten. Vera überlebte in London, die Eltern wurden im KZ ermordet.
Der Tscheche Peter Sís, 1984 in die USA emigriert, erzählt Nickys & Veras Geschichte(n) parallel, wobei der Text die Fakten liefert. In den Bildern arbeitet er wie in früheren Büchern anspielungsreich symbolisch und phantastisch verfremdend. So „füllt“ er die Silhouetten von Nicky und Vera mit Zeichnungen, die offenbaren, was beide prägt, z. B. Vera auf der Flucht: Ente auf See, Katze, Eltern und Elternhaus, Pferd. Auch die Seitengestaltung wirkt symbolisch. Auf einer Doppelseite reitet der Junge Nicky in Ritterrüstung auf einer weißen Taube, sein Schild ziert der Schriftzug „put needs of others first“, wobei lichtes Blau und Gelb Sicherheit und Hoffnung vermitteln. Veras gerahmte, gelb-grün-braune Dorfheimat wiederum strahlt gleichermaßen Enge und Geborgenheit aus. Sís‘ Bildstrategie basiert auf gekonnten Wechseln zwischen filigranen Tuschezeichnungen, Kreide- und Aquarellmalereien. Besonders beeindruckt Veras dreitägige Zugfahrt: vier dunkelblaue, schattiert-aquarellierte übereinanderliegende (Film-)Streifen spiegeln die Länge der Fahrt.
Manche Zeichnungen erinnern wegen vieler Details an Wimmelbilder und verlangen neben intensivem Anschauen auch Wissen, um historische Ereignisse bzw. Gebäude zu identifizieren (Big Ben, Eiffelturm).
Aber es bleiben Fragen und Interpretationsspielräume: Hat Sís das Hakenkreuz bewusst falsch gezeichnet? Warum hebt ein Redner auf dem Nürnberger Parteitag den linken Arm zum Hitlergruß? Keine Frage ist, dass Nicky ohne roten Superman-Umhang ein Held war. Und so könnte der Helden-Begriff als Einstieg dienen. Wer oder was ist ein Held? Haben sich Kinder schon einmal heldenhaft verhalten? Und was wäre ein „lauter“, was ein „stiller“ Held?
(Der Rote Elefant 40, 2022)