Sieben Minuten nach Mitternacht
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
214 Seiten
ab 12 Jahren
€ 16,99

Der Umschlag zeigt einen schmalen Jungen vor kippenden Grabsteinen, überdacht von einem ausladenden Baum. Durch die Krone leuchtet der Mond. Die blau-schwarz-rötliche Szenerie ließe schaudern, umrandete nicht das Morgenrot der aufgehenden Sonne die Wolken …

Die Gestaltung nimmt auf sensible Weise Motive bzw. Symbole der Geschichte vorweg: Nacht, Tod, Natur, Ewigkeit, Erinnerung, Morgen, Licht, Hoffnung. Der Junge Conor hat keine Worte für das notwendig Eintretende: Die Mutter wird sterben. Fände er Worte, würde Wahrheit, was nicht Wahrheit werden darf! Um Conors psychische Situation nacherlebbar zu machen, wird eine phantastische Geschichte erzählt. Als vieldeutiges Sinnbild dient eine gewaltige Eibe. Für Conor und die Mutter symbolisiert sie „Leben“: Früchte, Rinde und Säfte stehen seit Jahrhunderten für „Heilung“. Doch der Baum wird anfangs zur Bedrohung. Stets nach Mitternacht bedrängt er monstergleich den Jungen, wächst unerbittlich in dessen Zimmer hinein, beherrscht dessen Bewusstsein. Gnadenlos offeriert er gleichnishafte Geschichten, wurzelnd in Conors Alltagserfahrungen und Wertesystem, spiegelnd dessen Nicht-Wissen-Wollen. Da die Angst vor einem „Monster“ nicht größer sein kann als die eigentliche Angst, wird so für Conor eine reflektierte Annäherung an das Unausweichliche möglich. Gewalttätige Befreiungsschläge, vom Baum initiiert, gegen die scheinbar lieblose Großmutter und einen Mitschüler, gehören dazu. So wird der Baum entsprechend seiner Bestimmung letztlich doch zum Heiler. Als es Conor gelingt, seine Angst auszusprechen, ist der Abschied von der Mutter möglich, kann er wieder schlafen. Das Monster hat seine phantastische Funktion.

Es wird wieder zum Baum, Symbol von Werden und Vergehen, auch Erinnerung, wie es die Umschlagabbildung nahelegt. Doch nicht nur der Umschlag, die gesamte buchkünstlerische Layout-Komposition fällt ob ihrer Sorgfalt und Ausdrucksstärke aus dem Rahmen. Kays Schwarz-Weiß-Illustrationen, meist abstrakt-verwischt-diffus, aber auch Realität aufnehmend, interpretieren die albtraumhafte Gefühlslage des Jungen, verschränken Haupttext und Binnengeschichten. Patrick Ness, das Exposé der an Krebs verstorbenen irischen Autorin Siobhan Dowd verarbeitend, wählte für das überzeugende Psychogramm des Jungen Conor eine überschauende Erzählweise, ein Ich wäre kaum möglich gewesen. Er zeigt, wie sich existentielle Verdrängungen ihre Wege suchen, zu Bildern in Albträumen werden, Bewusstseinsspaltungen eingeschlossen. Auch die Übersetzung von Bettina Abarbanell stellt sich dieser Herausforderung in einer angemessen varianten- und bildreichen Sprache.

Für die „gewaltige“ Charakteristik des Baumes, dessen symbolische Überfrachtung und Sprache, wäre etwas mehr ästhetische Zurückhaltung angebracht gewesen. Aber vielleicht ist das gerade der Grund dafür, dass sowohl die Kritikerjury, Sparte Kinderbuch, als auch die Jugendjury das Buch für den DJLP 2012 nominierten.

(Der Rote Elefant 30, 2012)