Roter Elefant

Gespräche mit einem klugen Psychiater öffnen für den verschlossenen, aber auch aggressiven Elias eine innere Tür. Bis Freundin Polly durch diesen „Spalt schlüpfte“, liebte Elias nur die vier Jahre jüngere Schwester Evi. Mit Vier wurde bei Evi ein Tumor im Bein entdeckt. Jahre später folgte eine Amputation, was die Familie paralysierte. Mit Polly ändert sich alles. Die Eltern kümmern sich wieder um Haus und Garten und da Polly mit Evi „Weiber“-Gespräche führt und Elias verführt, finden die Geschwister aus ihrer Symbiose. Debatten über den Zustand der Welt, Selbst- bzw. Fremdbestimmung, Krankheit und Tod schmieden einen Dreierbund. Einmal meint Evi: Wäre der Tumor im Kopf und sie nicht mehr sie selbst, wäre sie lieber tot. Am verbundensten fühlen sich die Drei an einem Ort hinter einem versteckten Waldpfad mit Bach und verwachsenen Bäumen. Doch der lange glückspendende Ort wird gleichsam über Nacht zu einem Ort des Schreckens und der Hoffnungslosigkeit.

Den Freitod wählende Figuren sind in Jugendbüchern kein Tabu mehr. Oliver Reps` Debüt geht noch darüber hinaus, was der Autor jedoch subtil-diskursiv vorbereitet. In die Debatten um Freiheit, Würde und Selbstbestimmung integriert er Filme („Matrix“), Biografien von Selbstmördern (z. B. des Blues-Sängers Elliot Smith) und Mythen (Philemon und Baucis, Höllenhund Cerberus). Insbesondere dem Songtext von „The Day That Never Comes“ samt Kriegsclip der Metal-Band „Metallica“ kommt aufgrund des identischen Buchtitels eine leserirritierende Rolle zu, zumal Elias selbst den Text als „unklar“ bzw. „enorm aufgeladen“ wertet. Auf diese Weise initiiert Reps eine kritische Lesart seines Debüts, das im Bauplan einer antiken Tragödie gleicht: Die Erzählzeit umfasst eine Nacht, der Erzähl-Ort Familienwohnung bleibt gleich und die fünf Buchkapitel entsprechen den klassischen fünf Drama-Akten. Innerhalb dieses Rahmens erhellen rückblickende Erzählsprünge (mal frühe Kindheit, mal letzte Tage) die intellektuelle und psychische Entwicklung des nun 17-jährigen Ich-Erzählers samt Bedeutung der geliebten Personen. Lapidarer Erzählton und beiläufige Kommentare („Schlimmer kann es immer kommen“) bereiten das konsequente tragische Ende einerseits vor und halten es gleichermaßen bis zuletzt in der Schwebe. Grandios!

Eine „Matrix“-Filmszene, worin der Held im Koma liegt, könnte mit der Elias-Polly-Debatte aus dem Einstiegskapitel „Die Rote oder die Blaue?“ verbunden werden. Die Frage, welche Welt es wert wäre, aus dem Koma wieder zu erwachen, führt als Provokation direkt in die existentielle Problematik des Romans.

(Der Rote Elefant 40, 2022)