Wer erwartet, der Begriff „Heimat“ erführe hier eine schlüssige Definition, wird enttäuscht. Bereits das Titelbild signalisiert dessen Bandbreite. Darauf blickt eine weibliche Person, gemalt in Manier der berühmten Romantik-Ikone C. D. Friedrich, auf eine nur angedeutete Landschaft, nimmt aber gleichzeitig ein brennendes Flugzeug in den Blick. Nora Krug, geb. 1977 in Karlsruhe, heute Kunstprofessorin in New York, verheiratet mit einem amerikanischen Juden, recherchierte ihre Familiengeschichte und damit, pars pro toto, auch die Geschichte von Millionen Deutschen, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, und damit auch in Nazi-Deutschland, gelebt haben. Um der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht zu werden, kombinierte sie verschiedenste Materialien aus Alltag, Politik, Geschichte und der eigenen Familie. Dazu sichtete sie Familiennachlässe, arbeitete in Archiven, besuchte Flohmärkte, las Berichte von Zeitzeugen und war natürlich auch im Internet und bei Google Streetview unterwegs. Unter den verwendeten Dokumenten befinden sich so spezielle Fundstücke wie Porträtfotos von KZ-Aufseherinnen und Faksimile-Seiten eines Entnazifizierungsfragebogens: „Scherben der Vergangenheit“. Der Vielfalt des Materials entspricht auch die Buchgestaltung. Der handgeschrieben anmutende Erzähltext geht mit der Bildmischung, bestehend aus Gemaltem oder Gezeichnetem, Collagen, Bildfolgen mit Comicelementen, Brief-, Foto- und Zeitungskopien eine Symbiose ein. Als Leser- bzw. Betrachter*in folgt man fasziniert Krugs Suche nach den eigenen Wurzeln, immer wieder festgehalten von suggestiven Bildern, Farben, Schriften und Einfällen. Dazu gehören u. a. die etwa zehnseitigen „Notizen einer heimwehkranken Auswanderin“, worin im „Katalog deutscher Dinge“ Gegenstände benannt und ins Bild gesetzt sind, die für die Künstlerin auf eine diffuse Art „Heimat“ bedeuten, z. B. Uhu-Kleber, Hansaplast oder eine Wärmflasche.

Das überaus empfehlenswerte Buch will von vorn bis hinten langsam, intensiv und den eigenen Assoziationen folgend entdeckt werden. Es öffnet einen Gedanken- und Bildkosmos, der es ermöglicht, sich dem inflationär verwendeten Begriff „Heimat“ ernsthaft anzunähern. Die Frage nach den eigenen Wurzeln ist eine lebenslange, beginnt aber spätestens in der Pubertät. In den Worten von Nora Krug: „etwas, das erst zu existieren beginnt, wenn man es verloren hat.“ Dieser Aspekt wäre – anhand ausgewählter Seiten – besonders gut in kulturell gemischten Gruppen, z. B. mit Geflüchteten, zu diskutieren (Ein Interview mit der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse 2018 findet sich im Internet).

(Der Rote Elefant 37, 2019)

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