Ort: ein Fischerhaus am Meer. Darin leben Vater, Mutter und Sohn. Jeden Tag geht der Sohn schwimmen, bewegt sich im Meer wie ein Fisch im Wasser. Bringt er der Mutter etwas mit, eine seltene Muschel oder einen schönen Stein, erzählt sie ihm von phantastischen Meereswesen. Eines Tages beobachtet er den Vater, der „ein glänzendes Ding“ aus dem Schuppen ins Haus trägt. Der Sohn sucht danach und entdeckt es im Sofa-Bettkasten. Von der Mutter kennt er Legenden von Seehunden, die Menschen werden. Sofort ist ihm klar: Papa ist ein Seehund. Er weiht die Mutter in das Entdeckte ein. Am nächsten Morgen ist sie verschwunden. Zurück bleiben Vater und Sohn, ab und zu findet der Sohn am Strand zwei Makrelen.
Heidelbach erzählt auf mythisch-realistische Weise von einer Familie, in der ein Mitglied im falschen Leben lebt und diesen „wesen“haften Zwiespalt nicht mehr erträgt. Die komplexe Familiengeschichte hinterfragt das Recht auf Selbstbehauptung der eigenen „Natur“, das Verhältnis von Liebe und Verzicht, erzählt von Verlust, Trauer und deren Verarbeitung, mündend in das Bewusstsein von Freiheit und Selbstbestimmung. Mythen und Legenden vermitteln seit jeher rational schwer Fassbares auf gleichnishafte Weise. Daran knüpft Heidelbach an. Tröstend wirkt das Schicksalhafte des Vorgangs, für den Protagonisten ebenso wie für Leser bzw. Betrachter: Die Mutter ist ein Seehund und muss zurück ins Meer. Text und Bild legen dies nahe, sicher ist es nicht.
Mit dem Motiv der „Freiheit“ macht die erste illustrierte Doppelseite auf. Schwerelos-selbstverständlich bewegt sich der Protagonist frei im Raum auf weißem Grund. Seine letzten Sätze „Wenn ich größer bin, werde ich Seemann. Oder Seehund“ korrespondieren damit. Die Szenen im Haus und am Meer leuchten farbig aus weißem Rahmen. Erzählt die Mutter Legenden, wird der (Bild)Rahmen gesprengt, drängen die phantastisch-vermenschlichten Meereswesen ins Freie, bedrängen einander auf den nächsten Doppelseiten, schwimmen in die Träume des Jungen. Auf der Bildebene zeigt sich so die emotionale Verbindung zwischen Mutter und Sohn. Dieser verinnerlicht den Lebensraum, welchen die Mutter scheinbar verlor. Winzig klein, aber mit beiden Füßen im endlosen tief grün-blauen Meer stehend, glaubt der Protagonist am Ende nicht mehr an die Rückkehr der Mutter. Seine Folgerung sind o. g. letzte Sätze.
Text und Bild wirken qualitativ erzählerisch für sich, eröffnen aber in ihrer Verschränkung Interpretationsspielräume, die über direkte Textaussagen und Bildinhalte hinausweisen: Die 1. Doppelseite im Haus z. B. zeigt die Familie, links: der Vater am Küchentisch, zugewandt Mutter und Sohn beobachtend; rechts: die Mutter den Sohn abtrocknend, den Blick des Vaters vermeidend, der unter dem Handtuch verborgene Sohn „sieht“ nichts. Dieses „sprechende“ Bild weist weit voraus, der Text des Ich-Erzählers bezieht sich darauf in keiner Weise.
Als Einstieg könnte ein Selkie-Mythos (Schottland, Irland) frei erzählt werden, worin Seehundmännchen in Männer verwandelt an Land gehen und später die mit Menschenfrauen gezeugten Kinder holen. Was sagt in diesem Zusammenhang der Buchtitel? Gezeigt werden die Illustrationen, die mit „Seehund“ verbunden sind. Was haben Legende und Bilder miteinander zu tun? Die Vermutungen der Kinder werden sich an die Vermutungen des Protagonisten binden. Aufschluss bringt das Buch selbst.
(Der Rote Elefant 30, 2012)