Am Strand liegt ein hilfloses Mädchen. Zwei Brüder nehmen es mit und nennen es Marina. Der kleine Bruder zieht ins Zimmer des größeren. Einmal kommt eine Polizistin, aber Mama kann sie beruhigen. Ein andermal sagt ein Mann etwas Abfälliges, woraufhin Marina ihn beißt. Erst redet Marina wenig, nur „Wasser, Fisch, Auto“, bald „wie ein Wasserfall“: Sie sei eine Meerprinzessin, habe Schwestern und unten im Meer gäbe es wie hier oben Parks, Supermärkte, Autos. Der große Bruder bestreitet das. Danach ist Marinas Bett leer und im Meer schwimmt etwas. „Eine Robbe“ meint der große, „ein Meermädchen“ der kleine Bruder. Unterm Kopfkissen findet der Kleine Marinas Oktopus.
„Ein Buch ohne Geheimnis … ist uninteressant“, sagt Heidelbach, der seit 40 Jahren Bücher illustriert und selbst schreibt. „Marina“ hat ein Geheimnis. Ist sie eine Meerprinzessin oder ein Boatpeople-Kind, das sich in die Retter-Familie einpassen will? Die Mehrdeutigkeit mutet Kindern etwas zu, aber der Altmeister vertraut auf ihr empathisches Gespür. Strategisch klug lässt er den Kleinen erzählen, schützt diesen doch (noch) sein magisches Weltbild. Er glaubt Marina, was jüngere Kinder auch tun werden. So wie er werden Jüngere auch nicht verstehen, was der Mann mit „Wohl zu lange im Ofen, deine Freundin“ meint. Der Große bzw. ältere Kinder schon. Warum bezichtigt er Marina trotzdem der Lüge? Magisch-mehrdeutig wirken auch Heidelbachs Aquarellbilder, bestehend aus drei formal und farblich getrennten Ebenen, die z. T. aufeinander anspielen. So ist der Plattenbau bei Heimkehr der Brüder mit Marina düster Grau-Braun, bei der Suche nach ihr Meergrün. Die Weite des Sehnsuchts- bzw. Gefahrenortes „Meer“ zeigen randlose Doppelseiten, worin Horizont, Meer und Strand als blau-grün-weiß-beige Schichten abgebildet sind. Marinas Erzählungen entspricht eine rot-gelb leuchtende, unstrukturierte (Unterwasser)Welt, eine Mischung aus Orient und Rummel. Dagegen ist das Familienleben in braun-grau getönte, gerahmte Einzelbilder eingezwängt. Entsprechende Nahaufnahmen charakterisieren über Mimik und Gestik die Figuren und füllen erneut Text-Leerstellen.
Heidelbachs genauen und liebevoll-ironischen Blick auf kulturelle Details belegt eine faszinierende Doppelseite, worin er den von Marina erwähnten „Schwestern-Streit“ weitererzählt: Meermädchen spielen mit einem Hai, individualisiert durch ihre für Afrika typischen kunstvollen Frisuren, wobei Marina nur am Dutt erkennbar ist.
Als Einstieg reichen Assoziationen zum Mädchen auf dem Cover, der Welle auf dem Vorsatz und der kleinen liegenden Figur auf dem Titelblatt, um Marinas Geheimnis näher zu kommen.
(Der Rote Elefant 40, 2022)