Nikola Huppertz lässt ihren kindlichen Ich-Erzähler rückschauend berichten, wie er die Welt der Wörter bei seiner Oma kennenlernte. Damals glaubte Mio (!), dass die Wörter bei Oma wohnen, da sie ihn reichlich damit beschenkte. Laut und wild tobten ihm „Springteufel“ oder „Schreibmaschine“ entgegen, kaum dass er die Nase zur Tür hereingesteckt hatte. Andere Wörter hätte er fast übersehen, so leise und schüchtern kamen sie daher. Im Laufe der Zeit lernte der Enkel, dass es Wörter für „Traurigsein“, „Angst“ oder „Hoffen“ gibt. Jedes Wort durfte der Junge behalten. Also stopfte er die Wörter in seine Taschen und hatte sie immer bei sich: auf der Straße, in der Schule, auf dem Spielplatz und sogar in seinen Träumen. Täglich kamen Wörter hinzu. Als sich das Zimmer der Großmutter zunehmend leerte und sie selbst allmählich verstummte, sorgte der Enkel für Nachschub. Aber Wörter wie „Konsolenspiel“, „Manga-Magazin“ oder „Speicherkarte“ gehörten nicht mehr zu Omas Wörter-Welt. Sie streifte sie nur mit verständnislosem Blick und sah sich fragend in ihrer Stube um. Am Tag ihres Todes holte Oma unter dem Kopfkissen ein allerletztes Wort hervor und steckte es dem Enkel zu: „Mio“. In der Rückschau weiß Mio, dass die Wörter nicht bei Omi wohnten, aber gerade über diesen schönen Irrglauben vermittelt sich die innige Beziehung zwischen Großmutter und Enkel und schon kleinen Kindern, dass Sprache und Sprechen Menschen miteinander verbinden.
Autorin und Illustratorin beginnen – dem kindlichen Spracherwerb folgend – mit einfachen Gegenstandswörtern. Wenn die Autorin den Wortschatz um Komposita weitet, greift die Illustratorin diese Text“vorgaben“ zwar auf und entwirft irreale Wesen, entwickelt jedoch ihre anfangs dekorativ-zweidimensional angelegte Wandgestaltung weiter zu phantastisch räumlichen Bildszenerien – mal halb-, mal ganz-, dann wieder doppelseitig. Immer sind Omi und Mio darin integriert, so dass Heranwachsen des Erzählers und Altern der Großmutter sichtbar werden. Mit komplementären Blau-und Orangetönen deutet die Bildkünstlerin ein spannendes Verhältnis von Bild und Sprache an, wobei die Farben gleichzeitig Symbol für sich umkehrende Rollen sind. Vom Lernenden wird Mio zum „Hüter der Wörter“.
Das Buch kann vom Benennen einzelner Wandbilddetails bis zum Erzählen von Wörter-Bilder-Geschichten führen. Warum präsentiert Omi den Schiffbruch in einer Gewitternacht als Pappkartontheater? Und wer klappert darin mit den Zähnen? Eine Geschichte mit den Wörtern zum „Hoffen“ (Sternschnuppe, Wundertüte, Freund) könnte gemeinsam erdacht und ebenfalls in ein Kartontheater umgesetzt werden.
(Der Rote Elefant 35, 2017)