„254 Tage davor“ wird Raymond Greens ganzes Universum durch die Ankunft von Jane Doe in Williamsburg, einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt, durcheinandergebracht. „254 Tage davor“ hatte Ray noch niemals ein Mädchen geküsst, kannte das Gefühl noch nicht, wenn vor Glück das Herz fast explodiert und wusste noch nicht, dass er jemals so traurig sein könnte. „290 Tage danach“ kann Ray sagen, dass es eine gute Traurigkeit ist, die er nun spürt.
Das zwischen „Davor“ und „Danach“ ein Selbstmord liegt, lässt sich früh erahnen und mit der Ahnung verstetigen sich die Hinweise, wobei die Leser* innen mit einer raffinierten und gleichzeitig den Helden charakterisierenden Erzähltechnik konfrontiert sind: Als verschriener Geschichts-„Nerd“ betrachtet Ich-Erzähler Ray „The history of Jane Doe“ (amerikanischer Originaltitel) wie ein Historiker von ihrem Ende her und erzählt im Weiteren – kapitelweise alternierend – von „Damals“ bzw. „Heute“. Im Erzählstrang „Vergangenheit“ schildert er die gemeinsame Zeit, im Erzählstrang „Gegenwart“ schreitet er durch die Phasen seiner Trauer. Als alles „auserzählt“ ist, gelingt es Ray, Janes Tod zu akzeptieren. Innerhalb dieses klar strukturierten Wechsels spiegelt der Autor inhaltlich parallel emotionale Befindlichkeiten: Während Ray Janes Verlust mit Hilfe des Freundes Simon, der Mutter und vor allem des Therapeuten Rich meistert, zerbricht Jane an der Trauer um ihre verunglückte beste Freundin und ihrer vermeintlichen „Schuld“. Der Verlauf von Janes Depression lässt viel offen, zumal auch ihr Freunde, Familie und Therapeuten zur Seite standen. Diese Leerstellen sind jedoch er zählerisch notwendig, da Ray nur das aus Janes Gefühlswelt mitteilen kann, was er selbst (er)kennt. Dass „254 Tage mit Jane Doe“ als Referenz an John Greens „Eine wie Alaska“ zu verstehen ist, legt Debütant Belanger offen, indem er Ray mit gleichlautendem Nachnamen versieht. Der gelungene Adoleszenz- Roman um erste Liebe, Verlust und Trauerarbeit überzeugt nicht zuletzt aufgrund der gut gezeichneten Nebenfiguren, in deren Charakteristik immer wieder Rays Humor und sein skurriler Blick auf die Welt aufscheint, was dem ernsten Thema ein notwendiges Gegengewicht verleiht.
Um Handlungsverlauf und Roman-Struktur einzuführen, könnten Jugendliche „Davor“ und „Danach“-Auszüge an entsprechend beschrifteten, gegenüberliegenden Wänden anbringen. Mittels roter Fäden würden Verbindungen gezogen, sodass Parallelitäten, Verflechtungen und das Ineinandergreifen der Geschichten erfasst und sichtbar würden. Sinnlich erfahrbar entstünde so ein Erzählnetz, in dem sich die Jugendlichen räumlich bewegen könnten.
Anmerkung: Leider hat sich in der 1. Auflage ein Fehler eingeschlichen. Das 1. Kapitel lautet 61 Tage davor statt 61 Tage danach. Laut Verlag ist dies in der 2. Auflage korrigiert.
(Der Rote Elefant 38, 2020)