Vor dem Fenster von Bogis Krankenzimmer turnt eine Amsel auf den Zweigen. Auf Englisch heißt Amsel „Blackbird“. So lautet auch der Titel eines Lieblingssongs des krebskranken Jungen. Sein letztes Lebensjahr nach der plötzlichen Erkrankung wird aus dem Mund und in der Sprache seines erst 15-, dann 16-jährigen Freundes Morten erzählt. Die Krankenbesuche fallen Morten schwer, vor allem, weil sein Leben noch durch eine Reihe anderer Probleme bestimmt ist. Einerseits bezeichnet er sich selbst als „coolen Skeptiker“, dem z. B. die für ihn längst überfällige Trennung der Eltern nichts ausmacht, andererseits sieht er sich oft in Situationen gestellt, denen er sich nicht gewachsen fühlt. Warum passiert gerade das und nicht etwas ganz anderes? Eigentlich geht es immer um Probe-Situationen: mit den Lehrern, Mädchen, eigenartigen Freunden und einer ersten Begegnung mit Alkohol und Marihuana.

Der Ich-Erzähler berichtet von Versuchen der Selbsterkundung, aufrichtig und kritisch und bietet Ansätze zu philosophischen Reflexionen, etwa in Richtung der Konvergenztheorie. Autor Matthias Brandt, Jahrgang 1961, im Nebenberuf „Tatort“-Kommissar und Sohn des damaligen Bundeskanzlers, hat die Handlung eindeutig in seine Jugendzeit verlegt. Filme, Musik, der Super-8-Projektor im Klassenraum, eine contergangeschädigte Mitschülerin und der in der Kleinstadt neu eingerichtete Sex-Shop verweisen auf ein Milieu Ende der 1970er Jahre. So kann das Buch mit einem zeitgeschichtlichen Interesse gelesen werden, aber der Ton des inneren Monologs des Erzählers wirkt ganz heutig. Geläufige Gesprächsfloskeln wie „Keine Ahnung“ oder „Ganz ehrlich“ sprechen Leser*innen direkt an. Vor allem aber gelingt es dem Autor, die Erlebnisintensität seines Protagonisten zu vermitteln, ganz gleich, ob er davon erzählt, wie er über Kafkas „Verwandlung“ lachen musste, seine Sehnsuchtsgefühle schildert oder wie er am Fähranleger auf seine Freundin wartet, die dann doch nicht bleiben wird.

Unbestritten ist Matthias Brandt ein Erzähltalent. Er versetzt seinen Helden in unterschiedlichste, originelle Situationen und stellt glaubwürdig dar, wie kompliziert die Begegnung mit dem eigenen Ich sein kann. Und sicher könnte man darüber diskutieren, ob seine Haltung bei der Beerdigung Bogis als angemessen anzusehen sei.

(Der Rote Elefant 38, 2020)