Steht ein Flamingo am See und schläft. Der Protagonist des Buches ist eingeführt – und sein Anteil an der folgenden Handlung beschränkt sich (fast) ausschließlich auf diese beiden Tätigkeiten: stehen und schlafen. Der Storch hat offenbar Schwierigkeiten damit, nicht zur Kenntnis genommen zu werden, fühlt sich beleidigt und denkt sich seinen Teil. Doch damit nicht genug: als eine Ente des Weges kommt, teilt er dieser seine Gedanken mit, ohne dass die Betroffene sich wehren kann. Die Ente nimmt das Erfahrene für bare Münze und trägt es weiter – entsprechend ausgeschmückt und dramatisiert. Auch Reiher, Gans, Papagei und weitere Vögel statten den Flamingo mit ungeheuerlichen Eigenschaften und Handlungsweisen aus. Letztlich ist gewiss: Der Flamingo wird alle Vögel töten! Der Storch wusste es schon immer: Flamingos sind an allem schuld! …
Das Schlechteste anderen zuzutrauen, üble Nachrede und die ständige Suche nach einem Sündenbock sind Mechanismen, die je nach Alter unterschiedlich ausgeprägt auch schon Kindern bekannt sind und die das gesellschaftliche Zusammenleben oft sehr schwer machen. Martin Baltscheit und Christine Schwarz zeigen in ihrem Buch, wie es zu solch verzerrten und unwahren Behauptungen kommen kann und dass man nicht alles glauben sollte, was einem erzählt wird. Dabei beschränken sich die Künstler dankenswerterweise nicht nur auf das naheliegende Klischee, der „Einheimische“ (Storch, Ente, Spatz) habe Schwierigkeiten mit dem „Exoten“ (Flamingo). Die Tatsache, dass auch ein Papagei unter den Gerüchteverbreitern ist, verleiht der Fabel eine Dimension, die Fremdenhass aber auch die leider alltägliche Skepsis gegenüber jedem, der nicht so reagiert, wie man es erwartet, mit einschließt.
Die Gestaltung des Buches ist von überzeugender Klarheit: Ohne ablenkende Hintergründe „verwandelt“ sich der Flamingo parallel zu den über ihn gemachten Aussagen in ein groteskes Vogelmonster. Wenn dieses dann unabhängig vom Text ein Eigenleben entwickelt und die Vögel angreift, kann man sich fragen: Hatten die Vögel doch recht? Hat der Flamingo die ganze Zeit mitgehört und wehrt sich nun für die ihm angetane Schmach? Oder sehen die anderen Vögel nur das, was sie sehen wollen? Am Ende steht der Angreifer wieder als Flamingo am See und schläft – und es lässt sich wunderbar über das Geschehene diskutieren und philosophieren. Und auch darüber, in welcher Beziehung Selbstwertgefühl und Fremdwahrnehmung zueinander stehen.
(Der Rote Elefant 32, 2014)