Zu schade, dass niemand den Bus mit den eckigen Rädern gebrauchen kann. Stadtwerke, Reiseunternehmen und andere Betriebe lehnen sein Arbeitsgesuch dankend ab. Da sieht er am Straßenrand Menschen, die er einlädt mit ihm zu fahren: eine alte Frau, die kein Ziel mehr hat, einen alten Mann, der endlich das Rote Meer sehen will, einen Jungen, der in Alaska Lachse angeln möchte, ein Mädchen, das sich nach Tanzvergnügen sehnt, und ein streitendes Ehepaar, das den jeweils anderen an den Nordpol wünscht bzw. dorthin, wo der Pfeffer wächst. Als der Pfarrer einsteigt, der keine Gemeindemitglieder mehr hat, lauschen die Businsassen andächtig seiner Predigt, erinnern sich ihrer Wünsche und Träume, überdenken Entscheidungen für die Fahrtrichtungen ihres Lebens. Nach und nach leert sich der Bus. Als dieser in einer Schaufensterscheibe sein Spiegelbild sieht, erstaunen ihn seine fast runden Räder. Gut, dass wieder Platz für neue Fahrgäste ist.
Die phantastische Erzählung gestaltet die Autorin in Dialogen zwischen dem sprechenden Bus und jedem neuen Gast. Darin offenbart sich die philosophische Dimension des literarischen Textes. „Ich lenke der Busschnauze nach und du schaust dir an, was vor uns liegt und hinter uns bleibt.“ Das Bild des vermenschlichten Busses eröffnet der Autorin wie der Bildkünstlerin Raum für verschiedene Lebensgeschichten, die am Lesenden vorbeirollen. Diesen Raum nutzt Stefanie Harjes gekonnt, um mit filigranen und zart gefärbten Zeichnungen Gedanken und Empfindungen der Charaktere vorzustellen. Dazu fügt sie aus ab- und ausgeschnittenen Figuren, Stempelzahlen und -buchstaben rätselhafte Bildcollagen zusammen, die neugierig auf den Text machen. Zugleich laden ihre surreal anmutenden Bildseiten dazu ein, beim Phantasieren dieser Lebensgeschichten mitzutun. Harjes verziert den fabrikneuen Bus am Ende mit Graffiti. Anspielungsreich verweist sie dabei auch auf das eigene Werk, z. B. taucht ein Kafka-Schriftzug darin auf (RE 32). Das geistreiche Buch fordert Kinder wie Erwachsene gleichermaßen auf: Steigt ein und erzählt dem Bus von euch, egal, ob in Text oder Bild.
(Der Rote Elefant 34, 2016)