Charity Tiddler wächst um 1900 im viktorianischen England als einzige, ungeliebte Tochter einer wohlhabenden Londoner Familie auf. Die einzige elterliche Sorge ist es, das Mädchen könne den gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen. In ihrem Kinderzimmer, gleichsam abgeschlossen vom Draußen, schafft sich Charity ihre Nischen-Welt. Sie liest viel, rezitiert Shakespeare, beherbergt allerlei Tiere, mit denen es die „Wohltätige“ manchmal zu gut meint. Aber selbst im toten Zustand werden die Tiere zum Objekt ihrer Forschungen und akribischen Zeichnungen. Zu Charitys Glück schenkt ihr die französische Gouvernante einen Aquarellkasten. Die lebenslang Charitys Freundin Bleibende erkennt die Begabung dieses Kindes und ermutigt es, unbeirrt den eigenen Weg zu gehen. Das wunderliche, schüchterne Mädchen hätte beste Voraussetzungen zur einsamen Jungfer, wäre da nicht Kenneth, der sich nicht abweisen lässt.
Murails Beschäftigung mit dem Leben der Beatrix Potter mündete in eine fiktive Biografie, ein in der Jugendliteratur selten erprobtes Genre. Die Wahl dieses Genres verweist darauf, dass es nicht nur um den Einzelfall „Potter“ geht, sondern um eine grundsätzliche Beschreibung gesellschaftlicher Zwänge und Behinderungen für weibliche Selbstverwirklichung. Die erzählte Zeit wird durch das Spiel mit Elementen der Mädchenliteratur (Ende 19. Jh.) bzw. deren sprachlichen Stilmitteln, eingewoben in einem langsamen Erzählfluss, lebendig. Dementsprechend sind die Illustrationen von Phillipe Dumas im Stil Potter’scher Aquarellzeichnungen gestaltet. Das „schön altmodisch“ wirkende Buch birgt eine in der frühen Mädchenliteratur thematisierte bis heute gültige Botschaft: Bekenne dich zu deiner eigenen (hier künstlerischen) Identität, erweitere deinen geistigen Horizont. Murail lässt die Leserinnen aus dem Munde Charitys viel über das Leben im viktorianischen England, über Literatur, Politik und Darwinismus erfahren. Und sie erzählt davon, wie Literatur und Kunst zum Über-Lebensmittel werden können: Charity (alias Beatrix) schafft mit „Peter Rabbit“ einen Klassiker der Weltkinderliteratur. Genauso lebenswichtig aber ist für jeden Heranwachsenden wenigstens ein Mensch, der an ihn glaubt. Ein Muss für alle Potter-Fans, aber auch allgemein literarisch Interessierte ab 13.
(Der Rote Elefant 30, 2012)