„Chaos bringt Kummer“, weiß Jule. Deshalb ist sie sehr ordentlich. Mithilfe von „Zu-Erledigen-Listen“ strukturiert sie den Tag; Entspannung findet sie beim Sortieren ihrer zahlreichen Sammlungen, besonders dann, wenn ihr Körper mit Juckreiz und Hautausschlag reagiert. Das geschieht oft. Verantwortlich dafür sind Jules jüngere Schwester, die ständig Streit provoziert, der Vater, der messiehafte Züge trägt, und die Mutter, eine viel (zu) beschäftigte Psychologin. Dazu kommt die in einer Identitätskrise steckende Großmutter und nicht zuletzt David Dusch, der Jule in der Schule mobbt. Das größte Problem jedoch ist, dass Jule meint, sie wäre für alle Unstimmigkeiten in ihrer Umgebung verantwortlich. Als Jule ein eigenes Zimmer bekommt, entdeckt sie unter abgerissenen Tapeten ein Wandbild – den Traumzauberbaum, der ihrer Großmutter zufolge magische Kräfte entwickeln kann. Indem man darin wohnenden Tieren seine Sorgen anvertraut, kümmern sich diese darum. Und das probiert Jule aus.

Jules Beispiel stärkt sensible Kinder, die überängstlich auf Konfliktsituationen reagieren und schwer für eigene Belange eintreten können. Im Ritual des „Abgebens“ spiegelt sich die Möglichkeit, Abstand von Problemen zu gewinnen, um sich ihnen überhaupt stellen zu können. „Im Leben jeder Frau kommt der Punkt, an dem sie nein sagen muss“, ermutigt die Großmutter die Enkelin. Jule gewinnt Gelassenheit, lernt eigene Bedürfnisse kennen und sich zu wehren. Sie begreift: Jeder Mensch ist zuerst sich selbst gegenüber verantwortlich.

Das psychologische Motiv des Ortes, an dem man seine Probleme zurücklässt, ist nicht neu, das pädagogisches Anliegen überdeutlich: Literatur als Lebenshilfe. Doch Marianne Musgrove gelingt in ihrem Debüt, Jules Konfliktsituation nachvollziehbar zu gestalten. Schade, dass der Originaltitel „The Worry Tree“ („Der Sorgenbaum“) nicht übernommen wurde.

Der deutsche Titel ist regelrecht falsch, denn Träume zaubert Jules Baum nun wirklich nicht herbei – für Veränderung muss sie ganz allein sorgen. Die Website des Verlages bietet ein Download des Buchcovers als A3-Plakat an, aber darauf kann verzichtet werden: Jedes Kind malt lieber seinen eigenen Sorgenbaum oder besser noch einen zweiten dazu – für die Familie, einen Freund, die Oma …

(Der Rote Elefant 27, 2009)

Anmerkung: Der Titel der Erstausgabe lautete „Jules Traumzauberbaum“ und wurde für spätere Auflagen geändert.