Beinahe Herbst
Aus dem Norwegischen von Dagmar Mißfeldt
236 Seiten
ab 14 Jahren
€ 14,00

In der Familie Stern haben alle Geheimnisse. Ilses Geheimnis heißt Hermann Rød, der Nachbarsohn. Zu Treffen schleicht sich Ilse davon und entgeht so Mutters Meckerei. Ilses ältere Schwester Sonja, die dem Vater im Schneidergeschäft hilft, erwartet eine Nachricht vom Osloer Nationaltheater. Erst wenn die Zusage für eine Stellung in dessen Schneiderei eintrifft, wird sie sich dem Vater offenbaren. Aber auch Vater Stern verlässt das Haus lange vor der Ladenöffnungszeit. Falls er Tür und Schaufenster mit Wasser, Seife oder Fingernagel von Schmierereien wie „Judenpack“ reinigen muss. Seiner Frau sagt er nichts davon. Sie ist nervös genug, hat mit Haushalt und drei Töchtern zu tun, denn zur Familie gehört noch die fünfjährige Miriam, die ihre Tage mit Zeichnen und Spielen füllt. Die Geschichte der Sterns beginnt am 4. Oktober 1942. Noch ahnt die Familie nicht, dass wenig später ihr Leidensweg beginnt, der für alle, außer Ilse, in den Gaskammern von Auschwitz enden wird.

Wie mit einer Kamera schwenkt Marianne Kaurin von den herbstlichen Ansichten der Osloer Parks über Straßen und Häuser hinein in die Höfe, hinauf in die Hausflure und Wohnungen des Stadtteils Grünerløkka bis sie in Wohnzimmer und Küche der Sterns ankommt. Mittels dieses Erzählverfahrens führt sie die Lesenden mitten hinein in Gespräche, Gedanken und Gefühle, wobei auch Nachbarn in den Fokus geraten, darunter Täter, Verräter, Komplizen und Mitläufer. Wie Taxifahrer Odd Rustad aus dem 3. Stock, der Juden für zusätzlichen Lohn zur Sammelstelle transportiert. Endlich kann er seiner schwangeren Frau einen  Wintermantel kaufen. Ihm gesteht die Autorin Wandlung zu, lässt sein Gewissen immer lauter schlagen, sodass er letztlich hilft, Juden außer Landes zu bringen. In einer Winternacht steigt Ilse in sein Taxi …

Kaurins filmisches Erzählen versinnbildlicht ein Spektrum von Verhaltensweisen: Warum die einen sich ahnungslos geben, während sich andere des bevorstehenden Grauens gewiss sind; warum die einen das Land verlassen und andere im Untergrund Widerstand gegen die deutschen Besatzer leisten. Zu letzteren gehört Hermann, der vorgibt, abends Malerei zu studieren und deshalb Ilse wiederholt versetzt. Er versteckt sie, als diese nach aufreibender Streiterei mit der Mutter („Raus!“) das Haus verlässt, wodurch Ilse überleben wird. Neben dem Mitgefühl und Verständnis, das Kaurin für bestimmte Figuren zeigt, benennt sie parallel ganz klar Grausamkeit und Barbarei der Täter. Ihr Roman-Debüt ist ein literarisch überzeugendes Beispiel dafür, dass, auch wenn die letzten Zeitzeugen dieses von Deutschen verübten größten Verbrechens im 20. Jahrhundert nicht mehr leben, der Opfer gedacht wird, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.

(Der Rote Elefant 38, 2020)