„Lass uns jetzt zum Himmel blicken
sprechen wir von dem Tag, als du, bevor du du warst,
Wolke warst“
So beginnt eines der 16, mit römischen Ziffern überschriebenen Gedichte, die in dem schmalen, auf den ersten Blick unauffälligen Lyrik-Band versammelt sind. Im Titel aufgegriffen, lässt sich an den zitierten Versen ansatzweise das ebenso durchdachte wie meisterhaft ausgeführte poetische Gesamtkonzept von María José Ferrada ablesen: Das Lyrische Ich bleibt rätselhaft-mehrdeutig. Es könnte sich um ein Kind handeln, in dessen neugierig-naive, fantasiegeprägte Lebensphase sich die chilenische Journalistin und Schriftstellerin wie wohl nur wenige Erwachsene zurückzuversetzen vermag und das die Leserinnen dazu auffordert, mit ihm seine Weltwahrnehmungen zu teilen. Es kann aber auch ein beobachtend-begleitendes Erwachsenen-Ich sein, das ein Kind dazu anregt, seine Umwelt sinnlich-bewusst wahrzunehmen und in natürlichen Erscheinungen und Phänomenen, aber auch alltäglichen Gegenständen und Vorgängen Wunderbares, Magisch-Geheimnisvolles zu entdecken. Einmal ist die Rede davon, dass ein Baum an eine Tür klopft und seine Verwandten – Tisch, Stühle, Bücherregal – begrüßt: „Die Erinnerungen an den Wald / summen durchs Zimmer / wie Sonnenbienen“. Dann gab es wohl eine Zeit, in der Kinder die Sprache der Uhus lernten: „Vokale, die an der Nacht hingen / Konsonanten, die knisterten wie trockenes Laub.“ Leserinnen und Leser können so aufmerksam werden, assoziieren und selbst Worte und Welten erfinden.
Formal schaffen die freien Verse, in kunstvoller Übersetzung von Silke Kleemann, teils auf wenige Wortgruppen oder einzelne Wörter verknappt und durch Leerzeilen großzügig auseinandergerückt, viel Spielraum für eigene Gedanken und Empfindungen.
Andrés López schuf farbenfrohe Illustrationen, angelehnt an die Zeichenkunst von Kindern. Die ganz- und doppelseitigen Illustrationen, die das Kind in verschiedenen Situationen zeigen, fügen den Gedichten eine weitere erzählerische Ebene hinzu, denn auf jeder Seite fallen weiß gehaltene leere Flächen auf: eine Schachfigur, ein großer Sessel, ein Mantel, Umrisse einer wie aus Fotos ausgeschnittenen Großvater-Figur. In Seifenblasen tauchen die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse auf. Im Setzen von Pflanzen oder dem Vorbeilaufen eines Hirsches findet das Kind offenbar Trost über den Verlust des Opas.
Der Nachfolgeband des Künstler-Trios, „Zwischen dem Gras“, liefert zahlreiche „lyrische Anleitungen, um ein Gedicht zu finden“ (Verlagstext). Doch bereits ihrem Erstling wohnen mannigfache Anregungen inne, selbst Poesie zu entdecken und zu erschaffen.
