Auf der ersten Seite sieht der Betrachter einen Zug ohne Lok, der am Horizont vorüberfährt – aus dunkler Nacht in den hellen Tag. Die nächste Seite zeigt einen Koffer, einen Herrenhut und einen blauen Vogel. Ohne Worte offenbart sich das Grundmotiv des großformatigen, philosophisch intendierten Bilderbuchs: Eine Reise ins Unbekannte. Der Reisende, ein Mann in orange-gelber Jacke und mit weißem Sonnenhut, trägt einen Koffer. Laut Text weiß er weder, was darin ist, noch wo sich dessen Schlüssel befindet. Im Folgenden begleitet der Betrachter den namenlosen Mann von der Station eines abgelegenen Bahngleises über unbewohntes Land bis hin zu einer großen Stadt. Dort hofft der Reisende, den Schlüssel für sein seltsames Gepäck zu finden. Doch Begegnungen mit skurrilen, umherirrenden, ebenfalls koffertragenden Fremden, welche ihn kaum zu beachten scheinen, entmutigen ihn immer mehr. Erst als er – ohne zu wissen warum – selbst einen Fremden anspricht, öffnen sich während des langen und heiteren Gespräches beider Koffer …
Die in leuchtenden Tuschfarben (lichtes bis dunkles Blau, Braun und Grün) symbolistisch gestalteten Bilder des französischen Illustrators Marc Majewski, Jg. 1993, sind laut Selbstaussage u. a. von Quint Buchholz inspiriert. Ziellose Wegweiser, übergroße, ruhelose Reisende oder maskierte, teils animalisch wirkende Städter veranschaulichen die Einsamkeit des Protagonisten in einer ihm fremden, surreal anmutenden Welt. Nicht nur er, sondern alle haben offensichtlich „ihr Päckchen (rsp. Koffer) zu tragen“. Koffer-, Schlüssel- und Reisemotiv wirken als Gleichnisse für den Lebensweg eines jeden Menschen.
Bereits das Cover signalisiert durch Richtungspfeile ohne Ortsangaben sieben (!) Möglichkeiten, die sich als Irrwege erweisen können. Lebenslang, so die Botschaft, sucht der Mensch nach sich selbst und anderen Menschen. Ist jedoch der Suchende bereit, sich zu öffnen, öffnen sich auch Wege zu anderen Menschen. In diesem Kontext gehört auch die Bereitschaft zu Aufbruch und Loslassen. Die „blauen“ Vögel, „treue“ Begleiter des Reisenden, lassen erst los und brechen mit einem neuen Schwarm auf, nachdem ihr Schützling nicht mehr allein ist.
Die ausdrucksstarken Illustrationen animieren dazu, gemeinsam mit Kindern ab 6 Jahren über die Zusammenhänge von Reise- und Lebensweg, Einsam- und Gemeinsamkeit nachzudenken. Der von einem auktorialen Erzähler berichtete Text kann dabei vernachlässigt werden, da er die Assoziationen zu den eindrücklichen Bildern eher einschränkt. Allein die Interpretation der Bilder bietet genügend Stoff, um zu ergründen, warum es sich bei der beschwerlichen und ermüdenden Exkursion des Protagonisten trotz allem um „Eine schöne Reise“ handelt.
(Der Rote Elefant 35, 2017)