Zwei weibliche Halbakte
Text: Luz
Illustration: Luz
Aus dem Französischen von Lilian Pithan
Herausgegeben von Dirk Rehm
192 Seiten
ab 19 Jahren
€ 29,00

Drei Sprechblasen unter der Jahreszahl 1919 geben anfänglich den Dialog zwischen Maler und Modell wieder: Otto Mueller bittet Muse und Ehefrau Mascha, im perfekten Licht des Berliner Waldes ihre Bluse weiter zu öffnen und den Kopf zu neigen. Mueller arbeitet an seinem expressionistischen Gemälde Zwei weibliche Halbakte. Beobachtet wird das Paar dabei vom gerade entstehenden Bild, welches in der Graphic Novel des französischen Künstlers Luz als erzählender Zeuge die folgende Zeit in den Blick nimmt – bis es nach langer Reise 2001 im Kölner Museum Ludwig seine Heimat findet. Landschaften, Ateliers, Wohnorte, Ausstellungsräume ziehen an dem aus der „Ich-Perspektive“ teilnehmend beobachtenden Bild vorbei. Zur Milieustudie der Künstler-Bohème in den 1920er und 30er Jahren verdichten sich Liebes- und Trennungsszenen oder depressive Stimmungen des kranken Künstlers, der 1930 stirbt. In den Fokus rückt danach der Nationalsozialismus bis zur faschistischen Machtergreifung 1933 samt deren verheerenden Folgen. Ein Sammler begeht vor den Augen des Bildes Suizid: Zwei weibliche Halbakte erwarb einst der jüdische Kunstsammler Ismar Littmann, der sich nach demütigenden Repressalien 1934 das Leben nahm. 1935 raubte die Gestapo aus dessen Sammlung 64 Werke, da sie „typisch kulturbolschewistische Darstellungen pornografischen Charakters“ seien, und wählte davon elf für die diffamierende Ausstellung „Entartete Kunst“ aus, darunter Muellers Gemälde. In dieser Ausstellung hängend, belauscht das Bild als Zeitzeuge ideologische Ansprachen und subversives Geflüster.

Nach anfänglicher Irritation entwickelt die außergewöhnliche Erzählperspektive eine intensive Anziehungskraft. Stets die Perspektive des an der Wand hängenden, verpackten oder transportierten Bildes achtend, verdeutlicht Luz die mörderische Willkür jener Zeit in Seitenansichten, Draufsichten, Nahaufnahmen, die je nach Situation Distanz oder Nähe zu Vorgängen oder Personen schaffen. Jene karikiert, verfremdet oder verzerrt der Künstler und charakterisiert sie dadurch cartoonhaft deutlich. Die Sprechblasen enthalten faktenreiche, aussagekräftige Monologe und Dialoge; comictypische Lautmalereien verleihen der Erzählung eine akustische Dimension. Die Illustrationen sind in gedecktem Braun, Beige, Grau, Rot und Schwarz gehalten, mit Tusche gezeichnet und dann aquarelliert. Durchbrochen wird das triste, braune Zeitkolorit von den lebendigen, expressiven Farben der Gemälde anderer verbotener Künstler, die den Weg von Zwei weibliche Halbakte kreuzen.

Luz, der 2015 dem Anschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo nur zufällig entging, rückt die Planung, Durchführung und Wirkung der Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937/38 in den Mittelpunkt. Als Propaganda gedacht, kann sie rückblickend als eine beeindruckende Zusammenschau von Malerei und Bildhauerei des 20. Jahrhunderts gelten. Mit seiner meisterhaft gestalteten Graphic Novel, die beim 52. Comicfestival von Angoulême 2025 als beste Veröffentlichung des Jahres ausgezeichnet wurde, betont Luz nachdrücklich seinen Standpunkt für die unbedingte Freiheit der Kunst, gegen Vereinnahmung, Beschränkung oder Verbote.

Zur Vorbereitung der Lektüre lässt sich der umfangreiche Anhang (Biografien, Chronologie, Werkliste) nutzen. Die Betrachtung ausgewählter Gemälde aus der Werkliste führt zu Fragen: Wieso wurden gerade diese Bilder ausgestellt? Was bedeutet der Begriff „entartet“? Von welcher „Art“ sollte Kunst damals sein? Und wie ist das heute?

Übrigens: Ab 16. Oktober 2025 können als „entartet“ diffamierte Originalskulpturen im PETRI Berlin besichtigt werden.