Die Begegnungen des griechischen Helden Odysseus mit dem Kyklopen  Polyphem und den gefährlichen Sirenen sind relativ bekannt. Vielleicht auch noch die furchterregenden Monster Skylla und Charybdis oder die verführerische Kirke … Doch wer sind die Kikonen und die Lotophagen? Was hatte Odysseus mit dem Windgott Aiolos und den Laistrygonen zu schaffen? Wodurch zog er den Zorn des Sonnengottes auf sich? Und warum stieg er in die Unterwelt hinab und brach die Herzen einer Nymphe und einer Königstochter?

Odysseus‘ komplette Abenteuer erschienen nun in der sehr empfehlenswerten Graphic-Novel-Reihe „Mythen der Antike“, die seit einiger Zeit im Splitter Verlag veröffentlicht wird. Der großformatige Band (23 x 2,7 x 32,2 cm) wartet nicht nur mit allen Abenteuern der Irrfahrt auf (Gesänge 1 bis 12), sondern gibt auch der Zeit nach Odysseus‘ lange geheim gehaltener Heimkehr viel Raum und zeigt schonungslos den blutigen Kampf gegen die sein Haus und seine Frau Penelope belagernden Freier. Schon in Homers Original ist dieser Teil mindestens genauso lang wie die Irrfahrt selbst (Gesänge 13 bis  24).

Im Gegensatz zur verschachtelten Erzählweise des homerischen Originals entschied man sich für einen chronologischen Ablauf der Ereignisse. Dies erleichtert die Lektüre und spricht vermutlich mehr Leser*innen an, wobei die Illustrationen der Nacherzählung von besonderem Schauwert sind. Dabei bedarf es schon genauen Hinsehens, um die stilistischen Unterschiede zwischen Lorusso, der den 1. Teil zeichnete, und Baiguera, der die anderen Teile übernahm, zu erkennen. Die Zeichnungen der Künstler wirken, der Thematik angemessen, „klassisch“. In einem Stil, der an berühmte Monumentalverfilmungen erinnert, stützen die eindrucksvollen Szenerien, die individuelle Charakterzeichnung und die der jeweiligen Situation angepasste Kolorierung eine solide, spannend-fesselnde und auch berührende Lektüre. Besondere Erwähnung verdienen die Cover- (der rasende Polyphem) und Zwischenblattgestaltung (die zaubernde Kirke, die wartende Penelope und der heimgekehrte Odysseus). Von diesen an Gemälde erinnernden Illustrationen hätte man sich mehr gewünscht. Dafür finden sich im umfangreichen Anhang viele bekannte und weniger bekannte Darstellungen aus der bildenden Kunst, die den durchaus anspruchsvollen Texten zur Geschichte und Interpretation der Odyssee hinzugefügt wurden.

Eine gelungene Veröffentlichung, die sich in der Literaturvermittlung wunderbar mit freiem Erzählen der Mythen, Teilen von Homers Text und/oder der Nacherzählung von Franz Fühmann kombinieren lässt.

(Der Rote Elefant 39, 2021)