Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten
Illustration: Wolf Erlbruch
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
80 Seiten
ab 10 Jahren
€ 12,90

Der schmale Band versammelt sechs Kurzgeschichten. In kleinen Episoden schildert die Booker Prize Trägerin Ljudmila Ulitzkaja das Miteinander verschiedener Generationen im familiären und gemeinschaftlichen Umfeld: Wohnung, Hof, Dachboden, Straße, die Hütte der Großeltern auf dem Land …

Die Geschichten führen den Leser in das Russland nach dem Großen Vaterländischen Krieg (1941-1945). Mangel und Entbehrung bestimmen den Alltag der Menschen ebenso wie die durch den Krieg und die Zeit erzwungene Auflösung traditioneller Familienstrukturen. Kleine Katastrofen werden zu emotionalen Schlüsselerlebnissen: Valka, eine berühmte Turnerin, durchlebt als Kind mit der mutigen Eroberung eines Flohmarktschatzes verbundene Gefühle von „Kälte und Entschlossenheit“ als Erwachsene vor jedem Wettkampf aufs Neue. Die kleine Dina entwickelt für die Verschrobenheiten des fast blinden Großvaters, der sie aus einer selbstverschuldeten misslichen Lage befreite, erst mit zunehmende Alter wirklich Verständnis. Und dem Stadtkind Serjosha erscheint die einfache Hütte des Urgroßvaters zunächst märchenhaft fremd, doch vergisst er ihren besonderen Geruch nie mehr. Der Ton der Erzählerin wird nie moralisierend oder besserwisserisch. Obwohl sie rückblickend an die Personen gebunden erzählt, bleibt die Authentizität kindlicher Erfharung über die konkrete historische Zeit erhalten. Ulitzkaja weist jedem Alter und jeder Lebenskonstellation eine eigenständige Bedeutsamkeit zu und lädt so zu neugieriger Aufmerksamkeit füreinander ein. Die Aussicht auf einen Dialog zwischen den Generationen beantwortet auch die mögliche Frage, ob die Geschichten in erster Linie für Kinder geschrieben wurden. Die Illustrationen von Wolf Erlbruch, Nachkriegskind wie Ulitzkaja, wirken wie Kreideskizzen auf Packpapier und nehmen auf ihre Weise die kreative Bezwingung von erzähltem „Mangel“ ästhetisch meisterlich auf.

Einen Einstieg in eine Veranstaltung böte deshalb grobes Papier. Der ewig ausgegrenzte Genia, Held einer weiteren Geschichte, wandelt sich darin zum Papierhelden. Wie er könnten die Zuhörer Verschiedenes falten: „Ein Boot, ein Schiffchen, ein Segelschiffchen, ein Becher, ein Salzfass, ein Brotkorb, ein Hemd …“ Diese kleinen Kreationen wären Ausgangspunkt, die Geschichten gemeinsam zu erkunden …

(Der Rote Elefant 23, 2005)