Roter Elefant

Das 11. Schuljahr geht für Astrid zu Ende: Abschlussprüfungen stehen bevor, es herrscht Ferienstimmung, eine Interrail-Reise mit dem besten Freund Jonas ist geplant. Alles läuft soweit gut, wäre da nicht die Familie. Seitdem die zwei Jahre ältere Schwester Cecilie an Depressionen leidet, ist es Astrids Rolle, die Familienbeziehungen auszubalancieren. So ist sie die wichtigste Bezugsperson und Verbindung zur Außenwelt für Cecilie, Unterstützerin für die überlastete und überbehütende Mutter sowie Verbündete für den Vater, der sich am liebsten allen schwierigen Situationen entzieht. Als es Cecilie angesichts der Abiturprüfungen schlechter geht und sie eifersüchtig auf die beginnende Liebesbeziehung zwischen Astrid und Kristoffer reagiert, mit dem die Schwestern früher beide befreundet waren, spitzt sich die Situation zu. Letztlich muss Astrid klären, dass sie mit der Rollenverteilung bzw. dem fehlenden Zusammenhalt in der Familie nicht einverstanden ist. Und dass sie Glück fühlen darf, auch wenn es Cecilie nicht gut geht.

Lise Villadsen erzählt davon, wie die psychische Erkrankung eines Mitglieds im System „Familie“ alle permanent (über)fordert, aber ihr Jugendroman ist kein Beitrag zum Thema „Umgang mit psychischen Krankheiten“. Eher geht es um den Selbstfindungsprozess einer Jugendlichen angesichts komplexer Herausforderungen und Rollenerwartungen: als Tochter, Schwester, Freundin und erstmals Liebende. Dabei gelingt es der Autorin auf empathische Weise die ambivalente Gefühlslage ihrer Ich-Erzählerin zu gestalten. Da Astrids Beschreibungen von Cecilies Zuständen dem Wissen einer 16-Jährigen entsprechen, welche die Erkrankung wahrnehmen, aber nicht durchdringen kann, haben Lesende die Möglichkeit, sich zu Astrid zu positionieren. Angesichts der vielschichtigen Charaktere und authentisch geschilderten Szenen keine leichte Aufgabe, wobei die holprige Entwicklung der Astrid-Kristoffer-Beziehung eine zusätzliche Spannungsebene bietet.

Als Einstieg könnte ein Dialog zwischen Astrid und Kristoffer über den Begriff „Quantensprung“ (Originaltitel) dienen. Kristoffer: „Nur ein winziger Hüpfer, eine winzige Bewegung, Energie entlädt sich, das Energieniveau verändert sich“. Astrid: „Aber warum wechselt das Elektron die Bahn?“ Kristoffer: „Es gibt eine Menge Theorien dazu, aber sicher weiß man nur, dass diese winzige Energieänderung ständig passiert. Eine konstante Veränderung“. Mit Jugendlichen könnte die Übertragbarkeit dieser Vorgänge auf soziale Beziehungen (Familie, Schule, Freundschaft, Liebe) diskutiert werden, um auf mögliche Botschaften des Romans einzustimmen.

(Der Rote Elefant 40, 2022)