„Wir sollten Blumen mitnehmen. Mama würde sich freuen.“ Auf dem Weg in die Klinik erspäht das Mädchen im hellblauen Kleid weiße Blumen am Straßenrand. „Weiße Rosen, sie lenken zu des Sehers Senken“, erinnert der Bruder die Geschwister an einen oft gehörten, Unheil verkündenden Spruch der Mutter. Trotzdem verlassen die vier die staubige Wüstenstraße, um weiße Blütenzweige zu pflücken. Und wie im Spruch der Mutter nähern sie sich einem palastähnlichen Gebäude, werden davon geradezu magisch angezogen. Die drei Brüder lassen sich von der wachsamen Jüngsten nicht aufhalten: Sie trinken Quellwasser, essen vom speisenbeladenen Tisch, steigen in kühlendes Nass und verwandeln sich daraufhin, verfallen dem Seher. Als dieser auch das Mädchen in seinen Bann ziehen will, widersteht sie und fordert die Brüder zurück. Eine Prüfung wird ihr auferlegt: Drei Tage lang darf sie weder essen noch trinken …
Levi Pinfold erzählt rätselhaft-vieldeutig und paradigmatisch für patriarchalisch geprägte Kulturen vom Schicksal einer Familie, in der den Frauen generationsübergreifend eine besondere Bürde, fast ein Fluch auferlegt zu sein scheint. Um Angehörige zu retten und die Familie zusammenzuhalten, braucht es deren Klugheit, Widerstandskraft und Durchhaltevermögen. Weltweit tradierte Märchenmotive aufgreifend, erscheint die jüngste Schwester auch hier als Warnende, Beschützerin und Erlöserin, wie etwa bei den Brüdern Grimm in „Brüderchen und Schwesterchen“ oder in Andersens „Die wilden Schwäne“. Im Zusammenspiel von Text und Bild entsteht eine geheimnisvolle, fast beklemmende Stimmung, die bis zuletzt Spannung erzeugt. Dabei öffnen die querformatigen, fotorealistischen Bilder, die überwiegend in sandigen Gelb- und Grautönen gehalten sind, mit ihren surrealen Szenerien und Anspielungen auf Symbole jahrhundertealter Bildkunst und Architektur Raum für Fragen und Deutungen. Das, einer Fata Morgana gleich, auftauchende weiße Hotel erinnert an arabische oder nordafrikanische Wüstenpaläste, die Zypressen eher an die „Toteninsel“ von Alfred Böcklin und die Tafel, an der das Mädchen, wie eine Schachfigur platziert, drei Tage ausharrt, an Leonardo da Vincis „Das letzte Abendmahl“.
Schatten sind von großer Bedeutung, deuten auf Existenzielles, Unbewusstes, auf Verlust, den Tod. Doch ist nur das Leben der Geschwister in Gefahr? Als die Mutter die mitgebrachten Blumen sieht, weiß sie Bescheid. Das, was ihr geschah, ist auch Los der Tochter geworden.
Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche zu diesem altersoffenen Bilderbuch mit dem prophetischen Spruch des Sehers einzuleiten und Deutungsmöglichkeiten zu diskutieren, liegt nahe. Ausgewählte Illustrationen würden den Zusammenhang zur Geschichte offenbaren und zur (Schlüssel)Figur des Sehers führen. Wer ist dieser Seher, der im Buch als Löwe erscheint?