Wieder erzählt Kordon deutsche Historie am Beispiel Berliner Geschichte(n) und wieder konsequent aus einer Perspektive „von unten“. 1870/71 führen Deutschland und Frankreich Krieg gegeneinander. Das besiegte Frankreich verliert das Elsass und Teile Lothringens, es muss 5 Milliarden Goldfrancs Kriegsentschädigung zahlen. Das deutsche Kaiserreich wird gegründet mit Berlin als Metropole. Ein Bauboom setzt ein, Millionen zieht es in die Stadt. Kordon erklärt im instruktiven Nachwort den Roman als 2. Band einer Trilogie über die Anfänge der Demokratiebewegung. Der 1. Band trug den Titel „1848 – die Geschichte von Jette und Frieder“, der 3. Band wird sich der Zeit 1878-1890 zuwenden. Jette und Frieder sind inzwischen verheiratet, Tochter Rieke wird im 1. Kapitel 17 Jahre alt, der 18-jährige Sohn August besucht das Gymnasium und will Medizin studieren, der 9-jährige Jacob, genannt Köbbe, ist der geliebte Nachzügler. Die Familie gehört nicht zum (Lumpen) Proletariat: Frieder führt eine Zimmermannswerkstatt in der Neuen Jacobistraße 3, Jette macht Heimarbeit. Die Schauplätze wechseln zwischen Berlin und der Front. August, gegen den Willen der Eltern in den Krieg gezogen, kehrt zutiefst angeekelt von Kadavergehorsam, Todesnähe und im Bewusstsein, für Machtinteressen missbraucht worden zu sein, als Kriegsgegner heim.

Der Autor zeigt an persönlichen (Liebes- und Leidens)Geschichten, wie sich das Große im Kleinen spiegelt. Seine genaue Detailkenntnis beeindruckt, egal ob es um Orte, Verordnungen oder Milieus geht. Das Kapitel „Schlösser auf dem Alexanderplatz“ kommt dem heutigen Leser besonders nah. Wer weiß schon, dass zur erzählten Zeit Mietverträge nur halbjährig galten? Die Verzweifelten besetzen den Alexanderplatz, sie werden von berittener Polizei mit Knüppeln vertrieben. Heute beginnen dort die Montagsdemonstrationen der Arbeitslosen.

Ein erzählerischer Einfall kommt dem Text besonders zugute, Riekes malerische Begabung. Rieke beobachtet und zeichnet präzise genau Stilleben und Menschen: den Faltenwurf der Bettdecke im Schatten der herunterbrennenden Kerze, die Leiche der jungen Selbstmörderin an der Spree oder die alte Frau auf der Bank, die inmitten der Heimkehrer vergeblich auf den Sohn wartet. Diese „gemalten“ Szenen sind atmosphärisch sehr dicht. Ergänzt durch zeitgenössisches Bildmaterial, z.B. Fotos von Altmeister Zille, würden sich entsprechende Zitate für einen gleichermaßen historischen wie literarischen Einstieg ausgezeichnet eignen.

(Der Rote Elefant 24, 2006)