Cover: Klaus Kordon; Das Karussell

Das Karussell bildet die Vorgeschichte von Kordons bekanntem Jugendroman „Krokodil im Nacken“ (DJLP 2003, Jugendjury). Am Ende findet der 13jährige Manfred Lenz (Protagonist von „Krokodil im Nacken“ und Alter Ego von Klaus Kordon) einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein altes Blechkarussell in einer Kommode. Doch erst einmal entfalten sich die Lebensgeschichten seiner Eltern Lisa und Bertie, beide vor dem Ersten Weltkrieg geboren. Lisa, älteste Tochter einer Kriegerwitwe, muss ‒ fast noch ein Kind ‒ in der Wirtschaft der Mutter arbeiten. Später führt sie eine Eckkneipe im Berliner Arbeiterviertel Prenzlauer Berg. Bertie, Sohn eines minderjährigen Dienstmädchens, wächst in einem Waisenhaus auf. Lieblosigkeit und Drill bestimmen Kindheit und Jugend. Irgendwann lernen sich Lisa und Bertie kennen, verlieben sich ineinander. Doch die gemeinsam verbrachte, glückliche Zeit währt kurz. Bertie stirbt im Zweiten Weltkrieg. Sein Spielzeugkarussell, ein Geschenk der kleinen Schwester, die gegen den Willen der Mutter Kontakt zu ihrem Bruder suchte, hütet Bertie wie einen Schatz. Als Manfred Lenz das Karussell findet, stellt er Fragen. Die Mutter erzählt ihm noch vor ihrem eigenen (Krebs)Tod die Familiengeschichte. Die Struktur des Romans nimmt dessen variiertes Grundthema „Trennung“ formal auf: zwei Erzählstränge, jeweils gebunden an Lisa und Bertie, wechseln sich kapitelweise ab. Nur in wenigen Kapiteln fließen diese Stränge zusammen. Kordon erzählt nah an die Denk- und Gefühlswelt seiner Figuren gebunden. Die eher unpolitischen Protagonisten wissen auf ihre Fragen nach dem „Warum?“ und dem „Wie weiter?“ meist keine Antworten. Kraft schöpfen sie aus der sozialen Gemeinschaft, dem „Zusammenhalten“. Moralische Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen ‒ auch unter politischem Druck und existentieller Bedrohung ‒ werden unterstrichen. Manche Figurenkonstellationen und Handlungselemente geraten dabei etwas modellhaft-schematisch und weniger differenziert als in „Krokodil im Nacken“. Aber Kordon zeigt sich unzweideutig als Pazifist und Humanist. Trotz Distanz zur erzählten Zeit bietet er so den Lesern über Empathie und Anschaulichkeit Möglichkeiten der Identifikation und des historischen Verständnisses. Die Ereignisse, gleichsam „von unten“ dargestellt, vermitteln einen überzeugenden und atmosphärisch dichten Eindruck von deutscher bzw. Berliner Alltagsgeschichte. Am Beispiel seiner jugendlichen Hauptfigur erinnert der Autor an die Wichtigkeit des Nachfragens, des Erzählens und des Erinnerns. Ein abgenutzter Gegenstand, vorgegeben oder von Jugendlichen mitgebracht, könnte einer Bucheinführung vorausgehen.

(Der Rote Elefant 31, 2013)