Cover: Lewis Carroll, Alice im Wunderland

„Was für einen Sinn hat ein Buch ohne Bilder …?“ fragt sich die gelangweilte Alice. Da kommt ihr ein Kaninchen mit Taschenuhr gerade recht. Alice stürzt wortwörtlich in ein Land voller skurriler Figuren und stolpert von einer absurden Situation in die nächste. Am Ende steht sie vor einem unsinnigen Tribunal, das sich in einem Spielkartenwirbel auflöst.

Benjamin Lacombe ließ sich möglicherweise von Alice’ Frage leiten, als er begann, den Klassiker der Kinder- und Nonsensliteratur neu zu bebildern. Laut eigener Aussage sind es deutlich mehr Illustrationen geworden als geplant und der Verlag hat gut daran getan, sie alle in diesem großen Format mit dem kompletten Text zu veröffentlichen. Das Ergebnis ist ein fulminanter Bildband mit einer Fülle atemberaubender Bildideen, ausgeführt in verschiedenen künstlerischen Techniken. Die ein-, doppel- und mehrseitigen Farbillustrationen wurden in einer Mischtechnik aus Öl-und Acrylmalerei geschaffen und am Computer z. T. nachbearbeitet. Die farblich düstere Grundstimmung und Lacombes Fähigkeit, fast zu niedliche Figuren mit einer morbiden Bildwelt zu kombinieren, passen hervorragend zu Carrolls Text, der sich in seinen grotesken Eskapaden ohnehin nicht auf eine einfache phantasievolle Kindergeschichte reduzieren lässt. Wie immer bei Lacombe ist der Grat, auf dem er mit seiner Bildkunst wandert, schmal. Doch seine grandiosen Kompositionen und sein Maltalent bewahren auch dieses Buch davor, in den Kitsch abzudriften. Beispielhaft der Sturz in den Tränenteich oder die ausklappbaren Seiten, wenn Alice in der Geschichte in schwindelerregende Höhen wächst. Lacombes Alice-Darstellung bewegt sich dabei zwischen unschuldigem kleinen Mädchen im für den Künstler typischen Kindchenschema und einer jungen Frau, die sich durchaus (auf)reizend dem Betrachter zuwendet.

Ob Lacombe damit auf das „Hin- und Her und Rauf und Runter“ der Pubertät oder auf Gerüchte um ein angeblich unschickliches Verhältnis Carrolls zu seinen jungen Freundinnen anspielen will, muss der Betrachter beurteilen. Der Text ist zusätzlich mit – spielkartengleich – rot-schwarzen Federzeichnungen durchsetzt, die in Kombination mit der Typografie das Buch zu einem Gesamtkunstwerk machen.

Abgerundet wird das Ganze mit einem Anhang, der Briefe von Carroll, eine Biografie, Anmerkungen zur Übersetzungs- und Veröffentlichungsgeschichte sowie einige Skizzen Lacombes enthält. Im Ganzen eine gelungene Neuveröffentlichung des Klassikers, dessen zweiter Teil – Alice im Spiegelland – bereits, und nicht minder eindrucksvoll, erschienen ist.

(Der Rote Elefant 35, 2017)