„Stell dich auf den Kopf, dann siehst du die Welt richtig herum.“
Perspektivwechsel wird in dieser kurzen, anspruchsvollen und hochinteressanten Geschichte der Kartografie groß geschrieben. Denn im Laufe der Zeiten haben Menschen die Welt immer wieder mit anderen Augen betrachtet, änderte sich ihr Blickwinkel, erweiterte sich ihr Horizont. Zunehmende Mobilität und wissenschaftlich-technische Entwicklungen veränderten die Möglichkeiten der Orientierung. Als Abbild ihrer Zeit dokumentieren Karten so Geschichte und Weltbilder.
Die 18 ausgewählten Karten dieses Buches spiegeln dies wider und verdeutlichen zudem den Blick der koreanischen Autorin auf Asien. Beginnend mit den mehr als 3000 Jahre alten Stabkarten der im Pazifik liegenden Marshall-Inseln, die aus Blattrippen, Muscheln und Steinen bestehen, zieht sich der Bogen bis hin zu Sternkarten, Satellitenaufnahmen und der Karte des Genoms. Das Spektrum reicht von der Wandmalerei über den Marmorplan des Forum Romanum, die Bedeutung von Symbolen bis hin zum U-Bahn-Plan und „sprechenden Landkarten“ (GPS). Die Karte „Von allem, was unter dem Himmel ist“ dokumentiert den Einfallsreichtum der Kartografen, die neben China, Korea und Japan 80 Fantasieländer einzeichneten. Das aufwendig gestaltete Buch ist eine Augenweide. Der Vorsatz zeigt zweidimensional die Draufsicht auf die labyrinthischen Wege einer Bibliothek, der Nachsatz dann den eindimensionalen Lageplan. Die Karten selbst werden auf je einer Doppelseite in ihrer ganz eigenen Ästhetik präsentiert. Sie stehen im Mittelpunkt. Der Betrachter ist herausgefordert, ihr Geheimnis zu ergründen, sie zu lesen. Wiederholtes, genaues Hinsehen ist zwingend. Unterstützung geben dabei nur kurze Texte, der Bildanteil überwiegt. (Schade, dass sich Fehler auf der Frühlingshimmelskarte und dem Klappentext eingeschlichen haben.)
Die polnische Künstlerin Lipka-Sztarballo greift die Ästhetik der Karten auf, ergänzt und erweitert inhaltlich wie formal äußerst abwechslungsreich, z. B. mit einer Bildfolge, die den Bootsbau auf den Marshall-Inseln zeigt, oder mit zeichnerischen Varianten von Gemälden Vermeers, der selbst ein ausgewiesener Kartenliebhaber war. Wie die Autorin verdichtet und verschlüsselt sie, provoziert Fragen, z. B. die nach der Relativität eines Standpunktes. So wird die Frage „Wo geht’s lang?“ zu einer zukunftsorientierten, philosophischen, die eine weitere Beschäftigung mit dem Thema geradezu herausfordert – auch über die ergänzenden Texte am Ende des Buches hinaus. Diese sind leider in einem schwer lesbaren Miniaturformat und viel zu eng gesetzt. Die Karte des Geografen Al Idrisi aus dem 12. Jh., die unsere europäische Weltsicht auf den Kopf stellt, ist bestens zum Einstieg geeignet.
((Der Rote Elefant 30, 2012)