Cover: Kilian Leypold, Wolfsbrot

An einem frostkalten Wintermorgen macht sich ein Junge auf den Weg zur Schule, zu Fuß, allein. Er hat ein Wurstbrot in der Tasche – etwas seltenes, so kurz nach Ende eines Krieges. Sein Weg führt durch einen Wald, der „finster und unheimlich still“ ist. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch verdrängend, überlegt der Junge, wo und wann er das Wurstbrot essen wird. Da hört er Schritte, versteckt sich. Ein Soldat, „einer von denen, die nach dem langen Krieg nach Hause schlichen …“, zwingt ihn mit vorgehaltenem Karabiner aus dem Versteck und fordert augenzwinkernd „Wurst oder Leben“. Längst hat der Junge bemerkt, dass die Hände des Soldaten „nur noch Knochen“ sind. Er teilt das Wurstbrot, der Soldat verschlingt die ihm geschenkte Hälfte. Allein geht der Junge weiter durch den Wald voller Schatten. Plötzlich steht ein knurrender, ausgemergelter Wolf vor ihm, mit Augen, die an die des Soldaten erinnern – „hungrig und müde“ …

Kilian Leypold lässt seinen Ich-Erzähler in die Zeit zurückblicken, als dieser „sieben oder acht Jahre alt“ war. Lebendig ist die Erinnerung an das Unheimliche, Beängstigende der Begegnungen mit dem Soldaten und dem Wolf. Wie in vielen Märchen fungiert der Ort „Wald“ als Durchgangsraum. Der auf sich allein gestellte Junge ist Gefahren ausgesetzt, denen gegenüber er sich verhalten muss. Seiner Angst trotzend, reagiert er empathisch, intuitiv. Dabei ist Leypolds Figur ein genauer Beobachter, der ahnt, was Leben am Rande der Existenz bedeutet. Wenn es ums nackte Überleben geht, ähneln sich plötzlich Mensch und Wolf in ihrer Art, wie sie struppig, abgemagert, knurrend vor dem Jungen stehen. Und sind sie nicht alle drei voller Furcht – der Junge, der Soldat und der Wolf?

Ulrike Möltgens eindrückliche Collagen spiegeln Dunkelheit, Kälte, Angst und Bedrohung beeindruckend wider. Die Künstlerin schafft starke Kontraste in Weiß und Schwarz, setzt Blau und dunkle Rottöne ein. Die Schichten ihrer Collagen überlagern einander, verweigern dem Betrachter des Buches die Sicherheit der Wahrnehmung. Undurchdringlich scheint das Dickicht des Waldes, nur schemenhaft sind hie und da ein paar Rehe auszumachen. Und leuchtet da nicht ein unheimliches Gesicht zwischen den Bäumen? Möltgen arbeitet u. a. mit Papierstreifen und -schnipseln, Stoff, Schablonen, Pinseln, Folien, Farbspray.

Die eindringlich-beunruhigende Vielschichtigkeit von Collagen und Text machen dieses Buch zu einem außergewöhnlichen Bilderbuch-Kunstwerk.

(Der Rote Elefant 35, 2017)