Cover: Katja Alves, Marie und der Vogelsommer
Marie und der Vogelsommer
Illustration: Katja Spitzer
176 Seiten
ab 10 Jahren
€ 12,95

„Wenn ich eine Schwalbe wäre, dann könnte ich zu Papa nach Afrika fliegen.“ Dann müsste die 11-jährige Marie nicht mit Mutter und jüngerem Bruder aus der Stadtwohnung in ein entferntes Landhaus ziehen, sich nicht von den Freundinnen trennen und nicht plötzlich woanders zurechtkommen. Die Begeisterung der tatkräftigen Mutter, die sich als Bildhauerin über geringe Miete und Atelier-Schuppen freut, empfindet Marie als Zumutung. Selbst der Partner der Mutter, dessen Besuche Marie genießt, kann sie nicht aufmuntern. Den Vater, der in Afrika Brunnen baut und viel zu selten anruft, vermisst sie am fremden Ort umso mehr. Maries Bruder, meist als „Spiderman“ (Fantasie-)Monster und Spinnen jagend, gewinnt bereits am ersten Schultag einen Freund. Obwohl auch Marie sich offensiv um Kontakt zu Mitschülerinnen bemüht, gelingt ihr das nicht. Im Gegenteil. Konstanze, Spross einer lokal einflussreichen Familie, beweist ihre Dominanz in der Klasse, indem sie „die Neue“ gezielt ausgrenzt und andere dazu anstiftet. Zum Glück hat Marie Papas Fernglas und sein Vogelbuch! Alle Vogelbeobachtungen werden genauestens notiert. Und der etwas ältere, stille Björn, der häufig der Schule fernbleibt, hört Marie wenigstens zu. Und dann kommt der Tag, an dem Marie sich gegen Konstanze wehrt und dabei eine Grenze überschreitet. Katja Alves’ Roman nutzt das – in der Kinderliteratur häufige – Umzugs-Motiv, um die Gefühlswelt eines Mädchens zu beschreiben, das zwischen Patchwork-Familie, erstem Verlieben und Statusgerangel in einer neuen Schule seinen Weg finden will. Die psychologische Glaubwürdigkeit der Protagonistin vermittelt sich formal über einen wohltuend unaufgeregten Ton der Ich-Erzählerin und inhaltlich über deren Liebe zu Vögeln als momentan einziger Konstante und Bindeglied zum Vater. Wenn Marie über „Wegfliegen“ und „Ankommen“ nachdenkt, Vögel beneidet, da diese genau wissen „wohin sie fliegen“, sie selbst aber zeitweilig nicht weiß, was es heißt, „das Richtige“ zu tun, sind ihre seelischen Zwiespälte nachempfindbar. Maries Vogel-Notizen, jedem Kapitel vorangestellt, bereiten diese Gleichnisebene leserpsychologisch vor. Auch Katja Spitzers Vignetten signalisieren Analogien. Zum einen sind die Vogelarten mit wenigen Strichen originär-ausdrucksvoll charakterisiert, zum anderen weisen sie subtil auf menschliches Verhalten innerhalb der Geschichte hin.

Vor einem Bucheinstieg böte sich ein Gespräch über das Verhalten von Zugvögeln an. Mit räumlich inszenierten Stationen samt Buchzitaten, die auf Maries Ankommen am neuen Ort anspielen, könnte es weitergehen.

(Der Rote Elefant 35, 2017)