„Mrs. Brooks sagt, ich habe Asperger und ich sei für die Menschen in meiner Umgebung schwer zu verstehen und deshalb soll ich versuchen, sie besser zu verstehen, und das bedeutet, ich muss an den Gefühlen arbeiten. Ich würde lieber zeichnen.“ Die 10jährige Caitlin zeichnet als Ausdruck ihrer Weltsicht nur in Schwarz-Weiß. Bis vor kurzem gab es als helfenden Weltordner noch Bruder Devon. Er sagte Caitlin, was sie tun und lassen musste, um mit anderen zurechtzukommen. Aber jetzt sind
Devon, zwei weitere Jugendliche und eine Lehrerin tot, erschossen von einem Amokläufer. Caitlins Mutter starb vor zwei Jahren und der Vater kann sich nicht einmal selbst helfen. Nun hat Caitlin nur noch ihre Therapeutin Mrs. Brooks.
Laut Nachwort geht es Erskine nicht nur um die Gestaltung des erst seit 1944 bekannten Asperger-Syndroms, einer milden Form von Autismus. Ihr geht es um Verständnis für jede Art von „Anderssein“, fand doch an ihrem Wohnort 2007 an der Virginia Tech University der Amoklauf eines Jugendlichen statt. Deshalb verbindet die Autorin die individuelle Entwicklung Caitlins mit der Aufarbeitung eines familiären und gemeinschaftlichen Traumas. Das wirkt etwas „amerikanisch“, ist aber episodisch gut verknüpft. Caitlin macht es anderen nicht leicht, aber letztlich ist ihre Initiative, mit dem Vater Devons Pfadfinder-Truhe fertigzubauen und diese in einer Feier für die Opfer zu präsentieren, für alle eine Chance, mit dem Geschehenen „abzuschließen“. Erskine, selbst Mutter einer autistischen Tochter, gelingt das differenzierte Porträt einer skurril-egozentrischen, spezialbegabten, aber auch liebenswerten Persönlichkeit. Detailliert und nachvollziehbar werden Caitlins Welt-Wahrnehmungen beschrieben. Schulpausen sind ihr ob des Lärms und der Unübersichtlichkeit verhasst. Dann saugt sie gestresst an ihrem Ärmel. Mrs. Brooks Verhaltensalternativen kommentiert sie so: „Ich höre damit auf, aber wenn sie es später vergessen hat, fange ich wieder an. Ich bin hartnäckig.“ Angst-Gefühle erfährt Caitlin über körperliche Symptome, nur auflösbar durch „WAZ“, Wutanfälle mit anschließenden Zusammenbrüchen. Gesichtsausdrücke anderer sind ihr ein Rätsel, was sie zur Außenseiterin macht, aber: „Ich bin sowieso am liebsten meine eigene Gruppe.“ Caitlins unverblümte Weltbetrachtung bzw. das „Wortwörtlichnehmen“ birgt viel Situationskomik. Sagt die Therapeutin z. B., ihre Tür stünde stets offen, so muss Caitlin richtigstellen: „Die Tür ist niemals offen, man kann aber anklopfen“. Dank der empathischen, aber auch unnachgiebigen Mrs Brooks sind Caitlin und Leser jeden Alters auf einem guten Weg, sich selbst wiederzuerkennen und andere besser zu verstehen, denn Menschen sind nicht, sie werden.
(Der Rote Elefant 32, 2014)