„Warum ich nicht will, dass es jemand weiß? Sie werden es früh genug erfahren. Alle. Jeder wird es sehen. Und wissen. Und das für den Rest meines Lebens.“ Was Lon sich wünscht, ist eine „Gnadenfrist“: „Noch eine Zeit lang normal sein. Noch zu den anderen gehören, sein wie sie.“ Der 16-Jährige versucht, sich durch die Welt zu bewegen wie seine Altersgenoss*innen. Doch das Usher-Syndrom, eine Erbkrankheit, erschwert ihm zunehmend das Hören und Sehen. Lon stolpert oft und kann sich bisweilen kaum noch orientieren. Infolgedessen zieht er sich zurück und bleibt mit seiner Trauer, Wut und Angst allein. Erst als er sich auf der Klassenfahrt im Wald fast verirrt, lässt Lon sich helfen und kommt dabei seiner ersten großen Liebe nahe: Damian, der neu in seiner Klasse ist. Neben der Erkrankung, mit der Lon umzugehen lernt, setzt er sich auch mit seiner Sexualität auseinander.
In Kontrast zu Lons Gefühlschaos und seinem verschwommenen Blick steht die klare Sprache, in der die Autorin Karen-Susan Fessel ihren Ich-Erzähler zu Wort kommen lässt. Die Sätze sind teils stakkatoartig („Blitze, ein Zucken, Schlieren, eigentlich kein großer Unterschied. Augen auf, Augen zu. Augen auf.“), teils fließend („Alles ist so weit und groß und hell, ich bin ein winzig kleiner Punkt im Weltall, schwirre herum, habe nichts, woran ich andocken kann.“).
Die präzise Wortwahl legt die Ängste des Protagonisten offen, was ihn für die die Lesenden nahbar werden lässt. In Blindfisch geht es um Existenzielles wie die Angst vor Veränderung und die Angst, allein zu sein, nicht nur in der Zeit der Pubertät. Neben Themen wie Freundschaft und Liebe liegt der Fokus des Buches auf Lons Wunsch nach Unabhängigkeit und Erhalt der Eigenständigkeit.
Lon kompensiert seine schwindenden Wahrnehmungsmöglichkeiten durch seine Fähigkeit, Geräusche, Gerüche und Formen synästhetisch mit Farben zu beschreiben („Aber wie er riecht, der Wald! Wirklich unglaublich, würzig, wild, rotbraun, mit einem Hauch Orange.“). Neben dem Seh- und Hörsinn spielt auch der Tastsinn eine zentrale Rolle: „Fühlen, glaube ich, ist wichtiger. Und das geht ja immer.“ Mit dem Fühlen beginnt auch Lons Beziehung zu Damian, die ihm am Ende des Buches Hoffnung gibt und neue Sichtweisen eröffnet. In den kurzen Kapiteln – manchmal drei Seiten, manchmal nur drei Sätze lang – ermutigt Karen-Susan Fessel dazu, sich anderen gegenüber zu öffnen und darauf zu vertrauen, dass sich das eigene Leben immer aktiv (mit)gestalten lässt.
Um sich Lons eingeschränkter sinnlicher Wahrnehmung zu nähern, könnten Jugendliche versuchen, sich mit verbundenen Augen im Raum zu bewegen. Wie kann Orientierung gelingen, wenn ein Sinn wegfällt?