„wer bin ich?“ – ist das erste Kapitel von Jutta Nymphius‘ Adoleszenzroman überschrieben und umreißt so mit nur drei Worten dessen Grundfrage. Die 13-jährige Ich-Erzählerin Amelie wünscht sich eine „Sanduhr“-Figur und nicht die einer „Pyramide“ wie „das Mädchen im Spiegel“ sie ihr zeigt: Der Busen zu klein, die Hüften zu breit, der Bauch mit zu viel Speck. Mittels YouTube-Beispielen kann Amelie ihre Problemzonen per Photoshop zwar modellieren bzw. retuschieren, aber in der wirklichen Welt trägt sie Oversize-Pullis. „Ratschlägen“ für ein tolles Outfit, wie sie nicht nur Mitschülerin Sylvia absondert, hat sie nichts entgegenzusetzen. Überdies stylt sich neuerdings auch Amelies Mutter, aber nicht für den Vater. Erst durch Kira, die neue Mitschülerin, die sich anzieht und schminkt wie es ihr passt und der Bewertungen völlig egal sind, wagt Amelie sich und ihren Körper anders zu betrachten. Kira vermittelt auch zwischen ihr und dem Schulschwarm Elias, in den Amelie schon lange verliebt ist. Als Elias jedoch um ein Foto „oben ohne“ bittet, gerät Amelie massiv unter Druck …

Die Autorin erzählt von altersgemäß notwendiger Ablösung und Veränderung, erster Liebe und Freundschaft, körperlichem Scham- und gestörtem Selbstwertgefühl, Überlagerungen von Eigenwahrnehmung und Fremdspiegelung. Dabei liegt die Stärke des Romans darin, dass Nymphius medialen Sexismus, der über Werbung, Erklärvideos und Influencerinnen Schönheitsideale vorgaukelt, gekonnt in die Handlung einbaut, aber nicht bewertet. So wird Amelie nicht als Medien-Opfer stilisiert, sondern als Akteurin vorgeführt, die zwischen Body Shaming und Sexting ihren eigenen Weg sucht und damit der Frage näherkommt, wer sie sein möchte. Da Amelie der medialen Selbstoptimierungspropaganda letztlich nicht unterliegt, könnte sie auf verunsicherte Leser*innen bestärkend wirken, wozu auch ihre Fähigkeit zur z. T. humorvoll-distanzierten Selbstbeobachtung gewinnend beiträgt.

Irmela Schautz‘ intelligente Covergestaltung signalisiert Amelies „Problem“, indem sie den vermeintlichen „Pyramiden“-Körper demonstrativ ins Bild setzt, wobei der Busen durch ein Handy verdeckt ist. Für einen Buch-Einstieg könnten Frauenkörper aus der Kunstgeschichte und auf Fotos inklusive Coverabbildung betrachtet werden. Was galt wann als „schön“? Wer befand darüber? Inwieweit mussten sich Frauen daran orientieren? Entspricht der Körper des auf dem Buchcover abgebildeten Mädchens heute propagierter Schönheit? Wo wird diese propagiert? Ausgehend von Kapitelüberschriften und Selbstaussagen der Heldin wäre weiterführend über Body Shaming, Umgang mit Sexting und die Rolle der Medien bei der Frage „Wer bin ich?“ zu sprechen.

(Der Rote Elefant 39, 2021)