Der große schwarze Vogel
182 Seiten
ab 12 Jahren
€ 13,95

„Mas Todestag war ein strahlender Oktobertag. (…) an diesem Tag war nichts so wie sonst, sondern ganz anders. Und danach sowieso.“ Ben sieht zu, wie Sanitäter mittels eines Defibrillators versuchen, die Mutter wiederzubeleben. Aber die Rettungsversuche scheitern. Diagnose: Plötzlicher Herztod. Irgendwie muss das Leben der Familie weitergehen, aber der Vater kann den Söhnen keine Kraft geben, verliert den Boden unter den Füßen und versinkt in Trauer. So muss der eher schüchterne 14-jährige Ben die Verantwortung übernehmen. Sein Freund Janus ist ihm keine Hilfe. Glücklicherweise gibt es den kleinen Bruder Krümel, der mit seiner kindlichen Art Leichtigkeit in den Alltag bringt und Ben auf rührend-liebevolle Weise Trost spendet. Und dann tritt unerwartet die neue Klassenkameradin Lina in Bens Leben, eine „Expertin“ für den Tod, da ihr Bruder im Koma liegt. Nur Lina wagt es, schonungslos auf Ben zuzugehen und Fragen zu stellen, die andere aus Scham vermeiden.

Stefanie Höfler legt mir ihrem dritten für den DJLP nominierten Buch wiederum eine zutiefst berührende, sprachlich ausgefeilte Geschichte vor, deren Ausgangspunkt zwar ein Todesfall ist, die aber eigentlich vom Leben erzählt, von der Kraft und dem Mut, den Verlust eines geliebten Menschen zu begreifen, um schließlich zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Dabei drücken sich in Bens Erinnerungen an die geliebte Mutter Respekt und Achtung aus, ohne  Sentimentalität oder Beschönigung. Höflers chronologisch aufgebaute Erzählkomposition umfasst eine Woche, deren Tage in ihrem Verlauf aber abwechselnd von einem DAVOR oder DANACH unterbrochen werden, in der Mitte des Buches steht ein kurzes JETZT. Dies entspricht der Gefühlslage ihres Ich-Erzählers.

Da die Mutter noch immer präsent ist und nicht als Vergangenheit gedacht werden kann, wird die Gegenwart im Präteritum, die Vergangenheit dagegen im Präsens erzählt. Die Gegenwart tritt zu Gunsten der Erinnerungsarbeit in den Hintergrund. Auf beiden Erzählebenen lässt Höfler ihren Erzähler immer wieder von sich selbst abrücken, sodass ihm – auch aus Selbstschutz – ein beobachtend-reflektierter „Draufblick“ gelingt, sprachlich in Gedankensplitter gepresst: „Arzt, Polizei, Bestattungsunternehmen. Das ganze Programm.“ Hervor sticht das Motiv der Bäume, die für die Familie eine besondere Bedeutung haben. Dies böte sich für einen Einstieg in den Jugendroman an: Welche Beziehungen haben Jugendliche zu Bäumen? Sind sie eher Baumkletterer (wie der Bruder Krümel) oder Baumumarmer (wie Ben)? Das Ertasten von Baumrinde oder der Vergleich der Augenfarbe mit der Farbe von Pflanzenblättern führt unmittelbar zum  Protagonisten Ben, dessen Augen salbeifarben sind.

(Der Rote Elefant 37, 2019)