Fast fluchtartig muss der 17-jährige Tom mit seinen Eltern Uruguay verlassen. Nach zwölfstündiger Überfahrt auf einem maroden Dampfer landet die Familie in La Plata in Argentinien. Gründe für diesen „Umzug“ erfährt der Ich-Erzähler Tom nicht. Ist die Nazi-Vergangenheit des Vaters dafür verantwortlich, die bereits dazu geführt hatte, dass sie nach Kriegsende im Gefolge von Major Stiefel auf Umwegen nach Südamerika kamen? Dem tyrannischen Vater (vgl. die Autobiografie von Bernward Vesper „Die Reise“) versucht Tom möglichst aus dem Weg zu gehen. Nach einer (üblichen) väterlichen Tracht Prügel lässt er sich als stille Provokation eine Häftlingsnummer auf den Arm tätowieren, den Todestag Hitlers: 30445!
In La Plata, Tom geht auf eine deutsche Schule, das Colegio Friedrich, rückt die Vergangenheit wieder ganz nah an ihn heran. Dort, im Jahre 1952, begegnen sich Kinder aus Nazideutschland geflohener Juden und Kinder der „Täter“, die sich 1945 der Strafverfolgung durch die alliierten Gerichte entzogen haben.
Es entwickelt sich ein spannend erzähltes Geschehen, bei dem es vor allem um eine für beide Seiten ‒ aus verschiedenen Gründen ‒ wichtige Liste mit Namen jüdischer Patienten geht, an denen medizinische Versuche vorgenommen wurden. Auf welcher Seite die argentinische Polizei unter dem Diktator Peron steht, wird lange nicht klar. Oder haben auch der israelische Mossad und geheime Verbindungen von Alt-Nazis ihre Finger im Spiel? Außerdem hat sich Tom in Walli, die Tochter des jüdischen Arztes Dr. Löwenstein verliebt.
Dem Autor gelingt es, die Atmosphäre im Argentinien der 50er Jahre anschaulich zu machen. Obwohl es zeitweise wie in einem Krimi zugeht, wird das politische Thema dadurch nicht trivialisiert. Bei der Ergreifung des KZ-Arztes Mengele oder Adolf Eichmanns ging es in der Realität ganz ähnlich zu. Wichtig ist auch, dass es nicht um eine einfache Gegenüberstellung von Tätern und Opfern geht. Von der Diskussion im Geografieunterricht über alternative Erdprojektionen bis zur Frage nach der Identität von unter falschen Namen untergetauchten Personen wird immer wieder die Suche nach der „Wahrheit“ zum Problem. Gibt es nur perspektivische „Wahrheiten“ und sind wir unserer selbst wirklich sicher? Das sind aktuelle Fragen, vor allem auch die von Jugendlichen.
(Der Rote Elefant 31, 2013)