Roter Elefant Bilderbuchempfehlung

„In meinem Mund treibt das B für den Baum Wurzeln, das K der Krähen krallt sich in meinem Rachen fest und das M des Mondes malt mir ein stummes, staunendes Lächeln auf die Lippen“. Am liebsten wäre der stotternde Ich-Erzähler unsichtbar. Sprechen-Müssen treibt ihm Tränen in die Augen, so dass die Gesichter der Klassenkameraden verschwimmen. Stets ist da die Panik vor dem nächsten Schultag. An einem besonders schlimmen Tag geht der Vater mit ihm zum Fluss. Dort wird der Erzähler ruhig. Er wirft Steine ins Wasser, taucht selbst darin ein, lässt sich treiben, schwimmt. So wie der Fluss seinen Weg sucht, aufgehalten wird, weiter fließt, strudelt und gischtet, so wird der Erzähler seinen Weg durchs Leben finden. Diese tröstliche Erkenntnis macht ihm Mut, am nächsten Morgen in der Klasse ruhig und stolz von seinem Lieblingsort zu erzählen.

Emotional bewegend erzählt der kanadische Lyriker Jordan Scott von seinen Erfahrungen als stotterndes Kind, wobei der Gegensatz zwischen poetisch-fließender innerer Erzählstimme und benannter Sprechhemmung produktiv irritiert. Die ganze Dimension der Problematik öffnet sich jedoch erst im Zusammenspiel mit den Aquarellen von Sydney Smith: angefangen von der Wahl der Farben und Platzierung des Textes über die Wechsel der Perspektiven und Bildformate bis hin zu den ausklappbaren Seiten und dem Pinselstrich, womit klare Konturen ebenso gelingen wie zerfließende Ansichten. Bildgestaltung und Kombination erzeugt einen Sog empathischen Verstehens, sodass auf berührend-eindrucksvolle Weise nachvollziehbar wird, in welch beglückenden „Fluss“ der Junge beim Schwimmen gerät. Bewusst nutzt Smith dafür das formgebende, dynamische und mythische Element „Wasser“, symbolisiert es doch wie kaum ein anderes Sinnbild Auf- und Abebben von Gefühlen. In diesem Sinne weichen z. B. der Tränenschleier über Klassenzimmer und grob konturiertem Gesicht des Jungen, über das sich die feinen Umrisse unaussprechbarer Wörter gelegt hatten, blau-grünen Landschafts- und Flussbildern, die Ruhe und Weite ausstrahlen. Auch verbergen sich hinter einem doppelseitigen Porträt des Jungen vier Seiten glitzernden Wassers, wobei sich über die verdünnten blauen Aquarellfarben ein Gefühl von Sich-Treiben-Lassen überträgt.

Assoziationen zu „Wasser“ wären als Einstieg in das altersoffene Bilderbuch, nominiert für den DJLP 2022, denkbar. Da Smith Maler wie Monet oder Turner zitiert, böten sich Beispiele an. Welche Gefühle erzeugen diese Bilder? Anhand ausgewählter Illustrationen könnten dann die Gefühle des Protagonisten vermutet werden, z. B. in der Klasse und im Fluss.

 

(Der Rote Elefant 40, 2022)