Ganz allein. Ein kleiner Junge macht sich neugierig auf, die Welt zu erkunden: er sieht das lichte Blau des Himmels, lauscht dem Rauschen der Wellen, ekelt sich vor dem Geruch des Benzin-Rasenmähers, schmeckt Süße und Bitterkeit von Limonade, spürt die kleine Hand der Schwester … Die Eltern verstehen dieses Kind nicht. Durchaus ehrlich besorgt, sanktionieren sie den natürlichen Drang nach freier Entfaltung und führen eine dramatische Zuspitzung herbei. Allein die jüngere Schwester gibt dem Vierjährigen emotionalen Halt. Als sichtbares Zeichen erster kindlicher „Grenz“erfahrungen wird eine Narbe auf der Hand des Jungen zurückbleiben. Aber der Junge ist stark. Trotz Zurückweisung geht er immer wieder los.
Das Buch des norwegischen Autors und zurzeit meistinszenierten europäischen Dramatikers Jon Fosse präsentiert einen kunstvollen Text. Wie ein sensibler Beobachter begleitet der Erzähler die Wahrnehmungen des Jungen und bringt sie zur Sprache. Er findet Worte, die dem Jungen noch nicht zur Verfügung stehen. Diese Sprache ist karg, jedes Adjektiv wohl gewählt. Worte formen sich zu langen, bis über zwei Seiten gehenden Sätzen. Fosse schafft durch seine lakonische Distanz eine behutsame Annäherung an die kindliche Erfahrungs- und Wahrnehmungswelt, eine Welt, die den Erwachsenen offenbar verloren gegangen ist. Beim erwachsenen Leser wirbt er um einfühlendes Verstehen, darum, diese Differenz zu erkennen und respektvoll zu akzeptieren. Der kindliche Leser oder Zuhörer dagegen kann sich verstanden fühlen. Besonders faszinierend sind die Bezüge zur norwegischen Fjordlandschaft und deren symbolische Konnotation: Das weite Meer verspricht Freiheit und Abenteuer und birgt doch Wagnis und Gefahr. Der dichte Wald bietet schützende Geborgenheit und ist doch ein bedrohlicher Ort.
Kongenial nehmen die poetischen Bilder von Aljoscha Blau die vielschichtigen Ebenen des Textes auf und öffnen zudem neue Erfahrungsräume. Blau gewährt dem Betrachter nur einen Blick in Ausschnitten. Das Breitbandformat, gestaucht wie auf einem Fernsehbildschirm, verstärkt textinhärente Stimmungen und Gefühle: Beklemmung, Sehnsucht und Angst. Das geht unter die Haut und initiiert eigenes Denken, Fühlen und Fragen. Was wird die Kinder hinter diesem Busch im Wald erwarten? Wohin führt das blaue weite Meer hinter dem fernen Horizont? Wer steht dort hinter der Tür?
(Der Rote Elefant 24, 2006)