Ein kleiner Ritter will hoch oben eine Ziegelsteinmauer reparieren. Während er unerschrockenen Blickes und frohen Mutes die Leiter holt, anstellt und besteigt, verrät er, dass die Mauer in der Doppelseitenmitte „seine“ Buchseite schützt. Auf der anderen, da lauern Gefahren in Gestalt von Raubtieren und Unholden. „Wenn der Oger mich zu fassen kriegt, frisst er mich auf.“ Die drohende Gefahr auf seiner Seite, übersieht und überhört der Held: grüngraue Wasserwellen schwappen samt Krokodil heran und umspülen bereits die unteren Leitersprossen. Von Seite zu Seite steigt der Wasserspiegel. Als die Wellen fast über dem Ritter zusammenschlagen, greift der Oger tatsächlich über die Mauer …
Als Parabel über Ängste und Vorurteile gegenüber Fremden und Unbekanntem gestaltet der amerikanische Künstler Jon Agee den inneren Konflikt seiner Figur. Dafür nutzt er kurze, prägnante Aussagen, die er mit farbigen Bildcollagen hintertreibt.
Gedämpfte Farbtöne verleihen seinen Bildern einen ruhigen Charakter. Figuren und Formen sind auf Weiß in Szene gesetzt, örtlich und zeitlich ungebunden. Sie erinnern, wie auch der Bildaufbau, an die Altmeister Lionni und Carle, die zu Agees Vorbildern gehören. Wie sie gestaltet Agee seine Collagen aus farbigen Flächen und schafft darin diverse Strukturen, wobei er – anders als sie – digitale Medien nutzt. Den Falz fügt er in Gestalt der Mauer als wichtiges Element in alle Bildseiten ein. Diese ästhetische Entscheidung ermöglicht es schon kleinen Kindern, das parallel ablaufende Geschehen auf beiden Seitenhälften „ungestört“ im Blick zu behalten. So können sie dem Ritter immer einen Schritt voraus sein und im drohenden Unglück zugleich die Rettung erkennen.
Ein Gespräch über das Buch könnte durch Fragen angeregt werden: Warum fehlt die Mauer auf der letzten Seite? Welche Rolle spielt die Maus, die eine Verwandte von Lionnis Frederic zu sein scheint und mehrmals auftaucht? Für Englischkundige wäre es anregend, den Unterschied zwischen Original „THE WALL IN THE MIDDLE OF THE BOOK“ und deutschem Buchtitel zu diskutieren.
(Der Rote Elefant 39, 2021)